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Literatur: Altes neues Land

Zum 60. Geburtstag: Zwei lesenswerte Bücher über Leben und Überleben in Israel

Was ist das für ein Staat, der sich, von außen bedroht, immer neu behaupten und erfinden muss? Im 60. Jahr der Gründung Israels haben die beiden Journalisten Igal Avidan und Sylke Tempel sich dem Land in ganz unterschiedlichen Weisen genähert, als politische Bestandsaufnahme und als Reisereportage, und fügen so ein Gesamtbild des konfliktgeladenen wie erfolgreichen Landes zusammen.

„Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren?“, ist die Frage, die als roter Faden durch Avidans Buch läuft. Er macht bereits in der Einleitung deutlich, was ihn politisch und moralisch bewegt: Es ist die Position eines linksliberalen reformjüdischen Peaceniks, der für einen Friedensschluss mit den Arabern bis an die Grenze der nationalen Selbstaufgabe gehen würde. Einerseits hält Avidan die israelische Gesellschaft für „militant“ und „zerrissen“; andererseits sieht er in der friedlichen Umsiedlung der 14 000 Siedler aus dem Gazastreifen nach Israel eine „bemerkenswerte Leistung“. Insofern verkörpert er den Typus des säkularen Tel Aviver Links- oder Postzionisten, für den die israelische Selbstkritik zu den Grundwerten jüdisch-zionistischer Identität zählt. Avidan beschreibt das Land in fast paradoxen Formulierungen: „Israel ist ein jüdischer Staat, weil die meisten Israelis Juden sind, aber keine Theokratie. Das Land ist säkularer als je zuvor. Aber der Anteil der Ultraorthodoxen steigt. Die Mauer zwischen ihnen und dem Rest der Bevölkerung wird immer höher.“

Es ist kaum überraschend, dass Avidan dem israelisch-palästinensischen Konflikt eine zentrale Rolle in seinem Buch einräumt. Dabei seziert er die letzten tatsächlichen oder vermeintlichen „Tabus“ dieses Konflikts und macht auf die Folgen der Besatzung auf die Palästinenser, aber auch auf die israelische Zivilgesellschaft aufmerksam. Zugleich hält er nach gelebten Modellen einer friedlichen Koexistenz Ausschau und versucht, Verständnis für die politischen Hoffnungen der Palästinenser zu wecken.

Avidans selbstkritische Perspektive ist angemessen, sie ist aus europäischem Blickwinkel sogar sympathisch. Dennoch sind einige seiner Tatsachenbehauptungen und Werturteile fragwürdig: Wenn im Gespräch mit dem kritischen Historiker Benny Morris von der „Ausrottung der 700 000 Palästinenser“ im Unabhängigkeitskrieg die Rede ist, so dürfte diese ungeheuerliche Unterstellung einem Übersetzungsfehler geschuldet sein. Auch die naive Verwendung des historisch belasteten Begriffs „Blitzkrieg“ zur Charakterisierung des Sechstagekrieges 1967 mag ein Lapsus sein, über den offenbar weder Autor noch Lektor gestolpert sind. Nicht nachvollziehbar bleibt jedoch, warum Avidan einige abenteuerliche Behauptungen seiner Gesprächspartner kommentarlos stehen lässt.

Am Schluss seines Buches entwirft Avidan ein versöhnliches Szenario – am Beispiel zweier „moderner Propheten“, die beide auf die Vereitelung ihrer jeweiligen „Horrorszenarien“ hinwirken. Israel Harel, Vorsitzender des Instituts für Zionistische Strategie und als solcher ein moderater Vertreter der Siedlerbewegung, möchte den jüdisch-zionistischen Charakter Israels sicherstellen: „Der Sicherheitszaun wird die Grenze sein“, meint Harel. Ron Pundak, Leiter des Peres Centers, glaubt, dass erst „die friedliche Festlegung der Grenze mit den Palästinensern“ Israel „stabilisieren“. werde. Avidan, letztlich doch ein zionistischer Patriot, zieht die Schlussfolgerung: „Politisch könnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Sie sitzen aber dennoch im selben Boot, das sie vor dem Untergang retten soll. Ein anderes Land haben sie nicht.“

Die Journalistin und Publizistin Sylke Tempel zeigt in ihrer Reisereportage kaum Interesse an den tagespolitischen Ereignissen und an „dramatischen Szenen“. Stattdessen rückt sie die eigentlich bedeutsame „Rahmenhandlung“ in den Vordergrund: die Tatsache, dass Israel nach fast 2000 Jahren überhaupt wieder existiert – „allein aufgrund der Kraft einer Idee“, die ihren Ausgangspunkt vor über 3000 Jahren in der sagenumwobenen „Offenbarung am Berg Sinai“ genommen hat. Da ist es nur folgerichtig, dass sich die Autorin in ihrer geschichts- und religionsphilosophisch akzentuierten Perspektive zunächst auf den Spuren des israelitischen Exodus durch die Sinaihalbinsel bewegt. Weitere Stationen ihrer Reise durch alle Schichten der jüdischen Historie sind die Felsenfestung Massada in der judäischen Wüste, Jerusalem mit seiner mehr als 3000 Jahre währenden Geschichte, Algen züchtende Pioniere in der Negev-Wüste („idealistisch, aber nicht fanatisch“), die nordisraelische Landschaft Galiläas, die Jesreel-Ebene, wo sich die ersten zionistischen Einwanderer niederließen, und schließlich die liberale Metropole Tel Aviv. Wo immer sich Sylke Tempel aufhält – im Bus, im Café, beim Trampen oder Wandern –, begegnen ihr Menschen, die anders sind als es das Klischee suggeriert: Es sind europäisch oder gar deutsch geprägte Jeckes, eislaufende Russen, zionistische Pioniere der ersten Stunde, Beduinen, israelische Araber, arabische Juden, äthiopische Neuankömmlinge, Überlebende des Holocaust, Soldaten und andere Durchschnittsisraelis. Dabei ist Israel alles andere als ein Schmelztiegel – das Land ist Schauplatz einer einzigartigen multikulturellen Gesellschaft, in der mehr als 90 Sprachen gesprochen werden.

Die ehemalige Nahostkorrespondentin lässt uns teilhaben an ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit der Politik und gegenwärtigen Situation Israels im Nahen Osten. Die stärksten Momente des Buches sind jene liebevollen Beobachtungen, die dem Buch eine Atmosphäre verleihen, die unter die Haut gehen: So erzählt Sylke Tempel von der unglaublichen Arbeit der Biologin Elaine Solowey, die es unter „nächtlicher Bewachung und gutem Zureden“ schafft, einem fast 2000 Jahre alten Dattelkern, der bei Ausgrabungen auf der Festung Massada gefunden worden war, zu neuem Leben zu verhelfen. Der Dattelkern „Methusala“ ist inzwischen zu einer respektablen 50 Meter großen Dattelpalme herangewachsen.

Wird Israels Lebensgrundlage eines Tages so normal und selbstverständlich sein wie die Existenz der USA oder der Schweiz? Es ist der passionierte Radfahrer Igal Avidan, der für diesen postzionistischen Traum ausgerechnet auf eine Quelle des frühen Zionismus zurückgreift: „An einem sonnigen Wintertag radle ich entlang der wunderbaren Promenade am Hafen von Tel Aviv und denke an Theodor Herzl … Vor mehr als einhundert Jahren prophezeite er nicht nur den Judenstaat, sondern auch die Massenverbreitung des Radfahrens“ – als Verkehrsmittel für moderne „Individualisten“. Ob sich die Israelis in 60 Jahren den Luxus leisten können, über diesen Denkanstoß Herzls ebenso leidenschaftlich zu räsonieren wie über die Existenzaussichten ihres trotz aller Sorgen, Schmerzen, Selbstzweifel und Sünden beindruckenden Gemeinwesens?

Igal Avidan: Israel. Ein Staat sucht sich selbst. Diederichs Verlag, München 2008. 216 Seiten, 19,95 Euro.

Sylke Tempel: Israel. Reise durch ein altes neues Land. Rowohlt Berlin, Berlin 2008. 256 Seiten, 19,90 Euro.

Martin Kloke

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