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Amerikas Star-Historikerin mahnt ihre Landsleute: Eine Nation für die ganze Menschheit

Jill Lepore plädiert für einen „New Americanism“.

Wer dieses Buch mit einem gewissen Bildungshintergrund liest, wird zwei Diskurse wiedererkennen, die auch in Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Erstens die gemeinsame Wurzel von Liberalismus und Nationalismus im 19. Jahrhundert, die sich bei uns erst mit der Spaltung der Liberalen nach Bismarcks Sieg über Österreich 1866 voneinander trennten. Zweitens die Unterscheidung von Nationalismus und Patriotismus.

Jill Lepore wurde zum Star mit ihrem Buch „Diese Wahrheiten“, in dem sie die Geschichte der USA als fortdauernden Widerstreit zwischen Freiheit und Gleichheit schildert. „Dieses Amerika“ nun liest sich zugleich als Extrakt und als Fortsetzung von „Diese Wahrheiten“: Die USA, eine gespaltene Nation, sollten wieder zu einem gemeinsamen nationalen Selbstbewusstsein finden. Zu diesem Zweck müssten sie sich darauf besinnen, dass der Nationalismus des 19. Jahrhunderts und der moderne Liberalismus „aus demselben Lehm“ oder, wie es in der deutschen Übersetzung etwas schwunglos heißt, „aus demselben Grundstoff geformt“ seien. Einst im Bürgerkrieg und jetzt unter Präsident Trump stünden einander nicht Nationalismus und Liberalismus gegenüber, sondern zwei Nationalismen: der liberale und der illiberale.

Bürger zweiter Klasse

Lepore rekapituliert intensiv die Zeit der Segregation. Während die Ära der reconstruction unmittelbar nach dem Ende des Sezessionskriegs 1865 nicht nur einen Wirtschaftsboom im Gilded Age, sondern auch tatsächliche Gleichstellung brachte, drehten illiberale Kräfte ab 1880 das Rad zurück: Mittels der sogenannten Jim-Crow-Gesetzgebung wurden Schwarze, aber auch Immigranten aus Fernost – insbesondere China – zu Bürgern zweiter Klasse. Interessant ist Lepores Parallele zum gleichzeitigen Aufschwung von Nationalismus und Rassismus in Europa, etwa im deutschen Kaiserreich, aber auch in Frankreich. Ernest Renans „Was ist eine Nation?“ und der Chinese Exclusion Act wurden beide im Jahr 1882 publiziert.

Doch anders als das Deutsche Reich und – trotz der Revolution – Frankreich wurden die USA „als Asyl und Zufluchtsort gegründet: als eine Freistatt. Dies war eine Form des Patriotismus. Thomas Paine nannte Amerika in seiner Schrift ,Common Sense‘ ,ein Asyl für die Menschheit‘.“ Darauf beharrten auch afroamerikanische Intellektuelle wie W.E.B. Du Bois, der den Kriegseintritt unter Woodrow Wilson 1917 enthusiastisch begrüßte. „Diese bestimmte Nation zu lieben, bedeutet“, so Lepore, „die Welt zu lieben. Eine liberale Nation ist eine Nation, der jeder Mensch angehört, der ihre bürgerschaftlichen Ideale teilt.“

Verlorene Einigkeit

Im Rest der Welt wird dieser Anspruch, von Rechten wie von Linken, gern als unaufrichtig – oder naiv – verschrien. Doch darum geht es Lepore nicht. Sie will Einigkeit im eigenen Land wiederherstellen, eine Einigkeit, die nach den Jahrzehnten der Gleichstellung den USA verloren gegangen sei.

Wie das? Im Juni 1941, noch vor Pearl Harbour, ordnete Franklin D. Roosevelt die Aufhebung der Rassentrennung in der Rüstungsindustrie (sic!) an. In den Streitkräften selber geschah dies erst 1948, während der Berlin-Blockade, mittels Trumans legendärer Executive Order 9981. Von dort war es nicht mehr weit zu Rosa Parks, Martin Luther King und schließlich den beiden großen Gleichstellungsgesetzen Lyndon B. Johnsons in den Sechzigern: dem Civil Rights Act und dem Immigration Act. Seither aber, so Lepore, vertiefte sich die Spaltung wieder. Die Hochschulen wurden liberaler – und vergaßen die nationale Dimension des Politischen: „Als die Geschichtswissenschaft das Schreiben über die Nationalgeschichte einstellte, traten andere, von weniger Skrupeln geplagte Leute auf den Plan.“ Doch „der Nationalismus stirbt nicht ab, wenn seriöse Historiker das Studium der Nation aufgeben. Stattdessen verschlingt er den Liberalismus“.

Mobilmachung des Liberalismus

Lepore beschwört quasi eine geistige Mobilmachung des Liberalismus. Zwar räumt sie selber ein, dass es mit der nationalen Dimension von Politik ohnehin bald vorüber sein könnte, weil nämlich „das dringendste Problem, das es zu lösen gilt – der Klimawandel –, planetarischen Ausmaßes“ sei, und gebraucht in einem abschließenden Forderungskatalog das schöne Wort von der environmental stewardship. Aber noch ist das Politische auf Erden eben nationalstaatlich strukturiert, und Nationen, da hat Jill Lepore recht, „brauchen, wenn sie sich selbst einen Sinn geben wollen, eine Art von Vergangenheit, auf die man sich einigen kann. Sie können das von Wissenschaftlern bekommen, oder sie können sich an Demagogen halten, aber sie werden so etwas bekommen“.

Nicht ohne weiteres übertragbar

Lepores Manifest richtet sich im Jahr einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps natürlich an die USA. Auf Deutschland lassen sich ihre Postulate aus mancherlei Gründen nicht ohne Weiteres übertragen. Aber wie eine Gelehrte hier den erinnerungspolitischen Job macht, den die liberalen Eliten hüben und drüben vielleicht allzu lange unerledigt haben liegen lassen, ist allemal bemerkenswert.

Jill Lepore: Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München 2020. 158 S., 14,95 €

Konstantin Sakkas

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