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Literatur: Berichte, Gerüchte

Was wenige wissen wollten: Bernward Dörner über die Deutschen und den Holocaust

Eigentlich sollte ich schon schlafen gehen, denn es ist bereits 21 h und ich habe mich morgen zu einer Sonderaktion gemeldet. Es ist um 4.30 h Wecken und um 5.30 h fahren wir los. Morgen werde ich auch das erste Mal Gelegenheit haben, meine Pistole auszunützen. 28 Schuß habe ich mir mitgenommen. Wahrscheinlich wird das nicht reichen, aber ein anderer Kamerad wird mir seine Pistole oder Karabiner leihen. Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt Dir das schreiben darf, aber daß die Juden unser Unglück sind, das ist Dir ja schon seit langem bekannt …“

So schrieb ein großdeutscher Polizeibeamter vom weißrussischen Kriegsschauplatz am 2. Oktober 1941 an seine Ehefrau. Sein Zweifel war berechtigt: Eigentlich durfte er „das“ nicht berichten, aber zahlreiche solche und ähnliche Briefe wurden seit Kriegsbeginn geschrieben und etliche kamen durch die Briefzensur.

Der Berliner Historiker Bernward Dörner hat in seiner umfangreichen Studie „Die Deutschen und der Holocaust“ Hunderte solcher Belege zusammengetragen, um zu zeigen, wie das Wissen über den Holocaust 1941 bis 1945 in Bruchstücken in der deutschen Bevölkerung vordrang. Was wussten die Deutschen – während das Jahrhundertverbrechen geschah – vom Massenmord an den Juden? Wie viele wussten davon, wie präzise war ihr Wissen und welche Konsequenzen zogen sie daraus? Dörner untersucht zunächst die zahlreichen „Hindernisse“ einer zeitgenössischen Wahrnehmung des Genozids: strenge Schweigeverpflichtungen für die Täter, Verwendung verharmlosender Tarnbegriffe („Evakuierung“, „Umsiedlung“ etc.), Vermeidung schriftlicher Dokumente und Vernichtung schriftlicher Beweisstücke gegen Kriegsende, strikte Beschränkung des unmittelbaren Täterkreises, geografische Distanz zu den Tatorten „im Osten“, die unfassbare Beispiellosigkeit der Tat und das enorme Tempo der Tatausführung.

Gleichwohl, so Dörner, habe es zahlreiche Kanäle gegeben, über die Wissen von den Mordtaten in die Bevölkerung einsickerte. An erster Stelle nennt er Millionen von Wehrmachtsangehörigen, die nach und nach „fast alle“ Kenntnis erlangt hätten, sei es als Täter, als Augenzeugen, durch Berichte, Gerüchte, militärische Dienstanweisungen und anderes mehr; hinzu kamen die Polizeieinheiten der Einsatzgruppen als unmittelbare Täter; des Weiteren Zivilisten im „Osteinsatz“ (etwa Oskar Schindler oder Berthold Beitz) als Augenzeugen, schließlich Tatwissen bei vielen der Millionen vornehmlich aus dem Osten stammenden Fremdarbeiter. Als weitere wichtige Informationsquellen werden Auslandssender untersucht, allen voran der britische Sender BBC, der seit November 1941 sehr konkret über die Dimensionen des Judenmords berichtet habe; schließlich alliierte Flugblätter und ausländische Zeitungen. Nimmt man alle diese (und weitere) potenzielle Informationsquellen zusammen, schlussfolgert Dörner, hätten sich im Laufe der Jahre 1942 und vollends 1943 bei einer Mehrheit der Deutschen die Ahnungen, Gerüchte, Berichte zur Gewissheit über die systematische Vernichtung der Juden verdichtet.

Eine Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust für die Tatzeit 1941–45 zu schreiben ist ein schwieriges Unterfangen. Man bedenke nur, wie wenig ergiebig häufig jeder individuelle Versuch war und ist, im vertraulichen Kontext der jeweils eigenen Familiengeschichte diese Frage schlüssig beantworten zu wollen. Es handelte sich um geheimes und höchst gefährliches Wissen, das unter den brutalen Kriegsverhältnissen – mit dem propagandistisch eingehämmerten angeblichen Hauptkriegsgegner „des Weltjudentums“ – nicht oder nur sehr selten und verschlüsselt kommuniziert wurde. Diese Jahrhundertfrage für die 50 bis 60 Millionen erwachsenen Deutschen der Jahre 1941–45 beantworten zu wollen, erscheint einerseits ein hoffnungsloses Unterfangen, zugleich aber muss diese Frage wissenschaftlich so präzise wie irgend möglich beantwortet werden. Dörners Antworten vor dem Hintergrund einer beeindruckend großen Menge angehäufter Einzelbelege bestätigen den Forschungstrend der letzten eineinhalb Jahrzehnte: Sehr viele Deutsche wussten selbstverständlich mehr, als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im Allgemeinen eingestanden worden war. „Viele“ wussten „etwas“, so wird man zusammenfassen können.

Peter Longerich hat dies vor kurzem in seiner Studie über die Deutschen und die Judenverfolgung überzeugend nachgewiesen. Dörner bekräftigt diese Einsichten mit teils zusätzlichem Belegmaterial. Gelegentlich hat er freilich den Ehrgeiz, Longerich durch allzu forsche Generalisierungen überbieten zu wollen: Die „allermeisten Deutschen“, die „große Mehrheit der Deutschen“ habe „spätestens“ seit Sommer 1943 vom Holocaust gewusst. Dörners tatsächliche Belege lassen solche Schlussfolgerungen nicht zu. Quantifizierende Aussagen über die Verbreitung des gefährlichen Geheimwissens bleiben eine offene, letztlich kaum abschließend zu klärende Forschungsfrage. Gleichwohl hat Dörners Buch wesentlich zur Systematisierung des zeitgenössischen Wissens (und potenziellen Wissenkönnens) der Deutschen vom Holocaust beigetragen. Der Autor betont auch, und sicher zu Recht, gegen Daniel J. Goldhagens These vom „eliminatorischen Antisemitismus“ der Deutschen: Nur ein Teil der Informierten habe die Verbrechen begrüßt oder gebilligt, erhebliche Teile der Deutschen hingegen lehnten sie ab. Der Untertitel dieses aufklärerischen Buches muss jedoch als überzogen bezeichnet werden. Hätte Dörner, weniger verabsolutierend, formuliert: „Was wenige wissen wollten, aber viele wissen konnten“, so wäre dies eine angemessene Formulierung dessen gewesen, was er in seiner bedeutenden Untersuchung tatsächlich herausgefunden hat.



– Bernward Dörner:
Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 891 Seiten, 29,90 Euro.

Manfred Gailus

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