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China auf der Frankfurter Buchmesse: Abwehrhaltung gegen außen

China und der Westen: Vier Autoren zeigen eine Volksrepublik, die sich trotz Wandel treu bleibt.

Nun rollt sie, die China-Welle zur Frankfurter Buchmesse. Und sie ist nicht die erste. Kaum ein Programm der Verlage kam in den vergangenen Jahren ohne das „Reich der Mitte“ aus. Das Land fasziniert mehr und mehr Politiker, Manager, Militärs und Journalisten. Was können sie bei den diesjährigen China-Autoren lernen?

Sabine Dabringhaus geht die Sache ganz grundsätzlich an. Die an der Universität Freiburg außereuropäische Geschichte lehrende Historikerin räumt bereits zu Beginn ihres Werkes über China im vergangenen Jahrhundert mit der Vorstellung auf, die Volksrepublik lasse sich in eines der Modelle der westlichen Sozialwissenschaften pressen. Denn China ist städtisch wie ländlich. Es zählt zugleich zur industrialisierten nördlichen Hemisphäre wie zur kaum entwickelten südlichen. An seinen Küsten prosperieren moderne Metropolen, die sich wenig von westlichen Großstädten unterscheiden. Die Landesteile im Innern und im Nordwesten liegen in ihrer Entwicklung aber weit zurück.

Nicht zuletzt deshalb gibt Dabringhaus zu Bedenken, wie schwierig es sei, China in einem gesamten Jahrhundert zu erfassen. Doch vor epochenübergreifenden Darstellungen hat die Verfasserin einer beeindruckenden Geschichte des Landes zwischen 1279 und 1949 bisher nicht zurückgeschreckt. Auch dieses Mal vermag sie in den markanten Perioden vom Zusammenbruch der dynastischen Ordnung 1908–1916 bis zum Aufstieg zur ökonomischen Globalmacht seit den 1990er Jahren gleichsam rote Linien zu erkennen. Zu diesen Kontinuitäten zählt sie die Bindung des chinesischen Herrschaftssystems an ideologische Bekenntnisse, an eine starke Führungselite und an eine landesweite bürokratische Kontrolle.

Dabringhaus unterteilt das chinesische 20. Jahrhundert in fünf Phasen. Die 1890er Jahre bis etwa 1919 sieht sie durch die Auseinandersetzungen mit dem Konfuzianismus geprägt, durch die sich allmählich ein Bruch mit der kaiserlichen Herrschaftstradition vollzog. Dabei misst sie dem Konfuzianismus als offiziell vom Staat propagierter Weltanschauung und geistiger Grundlage der Gelehrtenbeamten eine fundamentale Bedeutung für die Stabilität des Reiches und die Legitimität dynastischer Herrschaft zu: In der zweiten Hälfte des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gab es wiederholt Versuche, den Konfuzianismus zu reformieren. Bei der Hunderttagereform von 1898, die auf den vom jungen Guangxu-Kaiser unterstützten Gelehrtenbeamten Kang Youwei zurückging, diente der Konfuzianismus als geistige Grundlage für eine umfassende Erneuerung Chinas, deren Ziel eine konstitutionelle Monarchie war.

Aufgrund der Widerstände am Kaiserhof wurde dieses Projekt jedoch gewaltsam abgebrochen und erst nach der Katastrophe des antiwestlichen Boxeraufstandes von 1900 durch die „Neue Politik“ der Qing-Regierung wieder aufgegriffen. Durch Reformen im Bildungs- und Erziehungsbereich, in der Wirtschaft und im Kommunikationswesen wollte sie die Dynastie an der Macht halten. Dennoch ließ sich das Ende des Kaiserhauses nicht mehr aufhalten. Auf den politischen Systemwechsel von der Monarchie zur Republik von 1911/12 folgte ab 1915 in der Neuen Kulturbewegung eine radikale Abrechnung mit der konfuzianischen Tradition, die für die Krise des chinesischen Staates verantwortlich gemacht wurde.

Den Höhepunkt bildete die radikale politische Umorientierung in Richtung der sowjetischen Revolutionsstrategie zu Beginn der 1920er Jahre. Auf die Vierte- Mai-Demonstrationen von 1919, als chinesische Studenten in Peking gegen die Beschlüsse der Versailler Friedenskonferenz protestierten und einen „chinesischen Weg“ mithilfe westlicher Naturwissenschaft und Demokratie zu Sozialismus und allgemeinem Wohlstand finden wollten, folgte die Gründung der kommunistischen Bewegung in China. Nicht nur die Kommunisten, sondern auch gemäßigtere Intellektuelle in der Republik erklärten den Konfuzianismus zur wesentlichen Ursache für die Schwäche des Landes. Dennoch blieb er indirekt weiter präsent. Mao Zedong, der noch eine konfuzianische Erziehung durchlaufen hatte, half er bei der Schaffung seines politischen Programms.

Im weiteren Verlauf der Republikzeit in den 1920er bis 1940er Jahren wurden die Folgen des Zusammenbruchs der traditionalen Strukturen sichtbar. Hier war nach Dabringhaus der Nationalismus prägend: Als einzige ideologische Gemeinsamkeit verband er nahezu alle politischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als wichtigsten Bezugspunkt für den politischen Nationalismus macht Dabringhaus den Zentralstaat aus. Ihm gelang es allerdings nach dem Ende des kaiserlichen Vielvölkerreiches nicht, die zentrifugalen Kräfte des chinesischen Staatsvolkes zusammenzuhalten.

Da in der Republikzeit jedoch die Stabilisierung eines leistungsfähigen Zentralstaats nicht gelang, blieb diese Variante des Nationalismus zunächst eine Utopie. In Anlehnung an traditionelle ethnische Grenzziehungen zwischen Chinesen und „Barbaren“ sowie unter Einfluss europäischer Rasselehren hatten die frühen revolutionären Theoretiker um Sun Yatsen und radikale Gelehrte wie Zhang Binglin einen rassisch begründeten Anti-Mandschurismus entwickelt. Nach 1912 schwenkte Sun Yatsen auf einen inklusiven Nationalismus um, der die chinesische Nation auf „fünf Rassen“ (Mandschu, Mongolen, Tibeter, Turkvölker und Han-Chinesen) gründete, die gemeinsam den Imperialismus bekämpfen sollten. Auf diese Weise konnte an dem Herrschaftsanspruch der Republik über alle Völker in den Grenzen des Qing-Imperiums festgehalten werden. Ein ethnischer Nationalismus stieß bei sämtlichen politischen Kräften der Republikzeit auf wenig Interesse, hätte er doch als Konsequenz eine staatliche Beschränkung auf die chinesischen Kernprovinzen bedeutet.

Einen kulturellen Nationalismus bezieht Dabringhaus in dieser Phase auf alle, die von „nationaler Essenz“ oder einem „nationalen Charakter“ des Chinesentums sprachen. Die soziokulturelle Tradition galt in diesem Denken als eine besondere Kraftquelle der modernen chinesischen Nation, um im internationalen Daseinskampf zu überleben. Allen Spielarten des chinesischen Nationalismus ist nach der luziden Analyse von Dabringhaus allerdings ein vorwiegend defensiver Charakter gemeinsam, der sich – bis heute – in einer Abwehrhaltung gegen angebliche oder tatsächliche Bedrohungen von außen ausdrückt.

Auf dem Weg in die kommunistische Diktatur in den ersten drei Jahrzehnten der Volksrepublik entwickelte Mao mit seiner Hinwendung zu den Bauern eine revolutionäre Strategie, die später anderen agrarischen Gesellschaften als Vorbild dienen sollte. Bei der Schilderung der Machtkämpfe innerhalb der Partei- und Staatsführung macht Dabringhaus auf einen Aspekt aufmerksam, der oftmals übersehen wird: Ähnlich wie in Europa spielten im China der 1960er Jahre Generationenkonflikte eine wichtige Rolle. Mit der Kulturrevolution gelang es Mao 1966, diese Spannungen auszunutzen und die städtische Jugend gegen seine politischen Gegner zu mobilisieren.

Deng Xiaoping schließlich sollte sich auf die von Mao in den Kriegsjahren geprägte Parole „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ berufen. Sie erhob die Praxis zum Kriterium von Wahrheit und den wirtschaftlichen Erfolg zum Prüfstein der marxistischen Ideologie. Damit begannen nach Maos Tod die ökonomischen Reformen, die zunächst auch von einer politischen Liberalisierung begleitet wurden.

Neue Perspektiven für China öffneten sich durch das Ende des Kalten Krieges. Sie blieben allerdings auf den wirtschaftlichen und den kulturellen Bereich beschränkt. Mit dem Kapitalismus hielt die Konsumgesellschaft Einzug. Dies hatte nach der klugen Beobachtung von Dabringhaus einen doppelten Preis: Der ökonomische Wandel führte nicht nur zu wachsenden Unterschieden zwischen Arm und Reich, sondern schwächte auch zunehmend den Zentralstaat. Auf der lokalen Ebene wurden weder gesetzliche noch moralisch-ethische Restriktionen respektiert. Eine Verwahrlosung der lokalen politischen Macht und der Rückzug des Staates von der untersten Verwaltungsebene waren die Folge.

Hat der wirtschaftliche Wandel China zum Weltmachtstatus verholfen, so treten heute nicht nur nach Wahrnehmung von Dabringhaus die negativen Konsequenzen für Innenpolitik und Gesellschaft deutlich zutage. Auch die aktuellen Reiseberichte aus dem „Reich der Mitte“ sind von ihnen durchzogen. Peter Hessler hat eigens die chinesische Führerscheinprüfung abgelegt, um das riesige Land selbst zu durchfahren. Nach tausenden Kilometern entlang der Großen Mauer konzentriert sich der langjährige Korrespondent des „New Yorker“ auf den Mikrokosmos eines abgelegenen Dorfes bei Peking. Am Beispiel des beginnenden Tourismus und einer Fabrik im Südosten des Landes vollzieht er in einfühlsamen Porträts der ihm begegnenden Menschen nach, wie allein der rasche Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ganze Regionen in kürzester Zeit fundamental verändert. Selten dürften in der chinesischen Geschichte Hoffnungen und Enttäuschungen, Aufbruch und gnadenloser Konkurrenzkampf so eng beieinander gelegen haben wie heute.

Ist dieses Wirtschaftswunderland China eine Bedrohung oder eine Chance für den Westen? Hesslers Kollegin Petra Kolonko von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist ebenfalls seit vielen Jahren in der Volksrepublik unterwegs. Ihr Urteil: Chinas Staatspräsident Hu Jintao hat zwar 2005 in einer Rede vor den Vereinten Nationen in New York seine neue außenpolitische Doktrin der „harmonischen Welt“ vorgestellt, nach der sein Land nicht nur „friedlich“ koexistieren, sondern in Harmonie mit den anderen Staaten leben will. Wichtiger Teil dieser Weltsicht bleibt aber, dass China die Staatengemeinschaft auf eine „Nichteinmischung“ in die inneren Angelegenheiten anderer Länder verpflichten will und auf eine „Achtung der Unabhängigkeit“ pocht. Dabei wird Harmonie als zentraler Begriff des alten chinesischen Denkens dem westlichen Wert der universalen Menschenrechte entgegengesetzt. Die „Harmonie-Doktrin“ wendet sich zugleich gegen den Vormachtanspruch der USA. Zustimmung findet sie dadurch nicht nur in Russland, sondern auch im Mittleren Osten, in Zentralasien, in Afrika, in Lateinamerika, in Nordkorea und in Burma.

Wer sich fragt, wo die Wurzeln dieser Doktrin liegen, wird bei Helwig Schmidt-Glintzer fündig. Der langjährige Ordinarius für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Uni München weist auf eine wechselseitige Angst hin: Einerseits macht China Angst. Denn im westlichen Bewusstsein gilt es als Herausforderer der universalen Werte liberaler Gesellschaften. Andererseits hat China Angst. Denn es sind die freiheitlichen Ideale des Westens, die traditionelle chinesische Ordnungsmuster erschüttern und ehemals feste Orientierungspunkte auflösen. Damit gibt der bereits durch zahlreiche grundlegende Studien zum „Reich der Mitte“ hervorgetretene Sinologe zugleich eine Antwort auf die Frage, die von Zeit zu Zeit im Westen Konjunktur hat: Wird China den Westen eines Tages wirtschaftlich oder sogar militärisch überrollen? Angesichts des von Schmidt-Glintzer beschriebenen Angst- Patts scheint das Einzige, was sicher rollen wird, die China-Welle zur Frankfurter Buchmesse.

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