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Cornelia Funke: "Tintentod"

Fantasie und Fälschung: Cornelia Funke macht der Harry-Potter-Schöpferin J. K. Rowling Konkurrenz.

Aus einem Kinderbuch entspringen die schlimmsten Ungeheuer. Der Nachtmahr zum Beispiel, der schwärzeste aller Schatten. „Bosheit sickert durch seine Haut und bedeckt sein Herz wie Schimmel“, heißt es über ihn. Eine verlorene Seele, die auch der Tod nicht von Schuld reinwaschen konnte, raubt der Mahr den Menschen alles, was sie menschlich macht: Lebenswillen, Wärme, Glück.

Ein Schelm, wer bei der Figur, die in Cornelia Funkes Jugendroman „Tintentod“ eine entscheidende Rolle spielt, an J.K. Rowlings Dementoren denkt, auch sie finstere Geister, die den Menschen Glück und Wärme aussaugen. Doch die Regelmäßigkeit, mit der die deutsche Kinderbuchautorin die Bände ihrer Tinten-Trilogie parallel zu den Harry-PotterBüchern herausbringt, fordert den Vergleich mit der britischen Konkurrentin geradezu heraus. Zumal Cornelia Funke, die inzwischen in den USA lebt, längst als deutsche J. K. Rowling gerühmt wird und es deutliche Parallelen gibt: zwei junge Frauen, die sich aus dem Nichts zu den meistgelesenen und erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart emporgeschrieben haben. Die Startauflage von „Tintentod“ beträgt 500 000 Exemplare, die Verwertungskette läuft ähnlich heiß wie bei „Harry Potter“. Im Frühjahr kommt die Verfilmung von „Tintenherz“ ins Kino.

Zwei Kindergeschichten also, im Zentrum hier ein einsamer Junge (Harry Potter), dort ein einsames Mädchen (die Buchbindertochter Meggie), die früh Eltern oder zumindest die Mutter verloren haben. In beiden episch angelegten Geschichten gibt es eine aufregende Parallelwelt, hier die Zauberwelt, dort die Welt der Literatur, in die sich die Kinder flüchten – nur, um zu entdecken, dass es in der Welt der Fantasie mindestens so grausam zugeht wie in der realen. Denn ein finsterer Unhold, sei es Lord Voldemort oder der Natternkopf, treibt hier sein Unwesen – ein schwarzer Lord, schwach und dem Tode geweiht, der zur Wiedererstehung die Hilfe der Guten braucht.

„Tintentod“, der letzte Band von Cornelia Funkes Tinten-Trilogie, ist mit fast ebenso großer Spannung erwartet worden wie der wenige Wochen zuvor erschienene finale Band von J. K. Rowlings „Harry Potter“-Epos. Auch hier gilt: Die Autorin hält ihr Niveau, bringt die ungemein verzwickte, vielfigurige Geschichte solide und überzeugend zu Ende, ja, sie entfaltet im Finale einen ähnlichen Sog wie der Showdown von „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“. Und macht doch, mehr noch als in den beiden vorangegangenen Bänden, deutlich, was sie von ihrer britischen Kollegin unterscheidet.

Während die „Harry Potter“-Bände ihren Reiz aus dem Konflikt mit der Wirklichkeit zogen, daraus, dass das, was in der Zauberwelt geschieht, unweigerlich auch Auswirkungen auf die Realwelt hat, spielt Funkes „Tintentod“ fast ausschließlich in der märchenhaften Fantasiewelt eines Kinderbuchs, in welche die lesemächtige Meggie sich und ihre Familie hinübergelesen hat. Es ist eine Fantasiewelt, die, anders als Harry Potters Zauberwelt, eindeutig mittelalterliche Züge trägt, mit Räubern, Rittern, Riesen, Spielleuten und Prinzessinnen. Diese Welt der Märchen und Sagen funktioniert nach den alten Tugenden von Mut und Edelmut, Tapferkeit und Treue. Und alles, was in „Harry Potter“ an Psychologie, Zweifel und Uneindeutigkeit angelegt ist, teilt Funkes Tintenuniversum eindeutig in Schwarz und Weiß.

Doch dafür hat sie, besonders im letzten Band, ein anderes, geradezu postmodern komplexes Motiv ins Zentrum gestellt: die Hilflosigkeit des Autors angesichts der eigenen Geschichte. Nicht umsonst sind die interessantesten Figuren nicht der heldenhafte Buchbinder Mo, der als Räuber Eichelhäher einen Robin-Hood-artigen Feldzug gegen die Herrschenden führt, samt seiner klugen Tochter Meggie, die ihre erste Liebe erlebt. Es ist noch nicht einmal der unbeständige Feuerzauberer Staubfinger, dem Funke Züge ihres im vergangenen Jahr verstorbenen Mannes verliehen hat. Nein, es sind die beiden Schriftstellerfiguren, die die Stärke von „Tintentod“ ausmachen: der eitle Fenoglio, der einst das Buch von der „Tintenwelt“ ersann und nun, seit sich diese nach eigenen Gesetzen weiterentwickelt, unter einer massiven Schreibblockade leidet, sowie sein Gegenspieler Orpheus, der nicht minder eitle Plagiator, der sich aus Fenoglios Worten eine eigene Welt baut, sich nach Belieben einen Silberschatz oder einen Nachtmahr herbeischreibt und doch nicht frei ist von dem schriftstellerischen Ehrgeiz, die vorgefundene Geschichte zu verbessern und zu einem guten Ende zu bringen.

Ihrem Kampf mit den widerborstigen Charakteren widmet Funke weite Teile von „Tintentod“. „Vielleicht verändert diese Geschichte ihn, aber er verändert auch die Geschichte“, sagt Fenoglio einmal über Mo, der sich die Rolle des tapferen, aber auch blutigen Eichelhähers mehr als geplant zu eigen macht. Auch Staubfinger macht sich seine Gedanken über die Rolle des Autors in der Geschichte: „Diese Welt spinnt ihre Fäden selber. Ihr verwirrt sie nur, zertrennt sie, fügt zusammen, was nicht zusammengehört, anstatt das Verbessern denen zu überlassen, die in ihr leben“, klagt er Orpheus.

Ob dieser Kampf zugunsten der frei fabulierenden Literatur oder der stets unbeeinflussbaren Wirklichkeit ausgeht, lässt Funke dabei bis zum Schluss offen. Alle ihre Figuren treibt die Sehnsucht nach der besseren Welt, und auch die Autorin, die jedes Kapitel mit Lieblingszitaten quer durch die Literaturgeschichte eröffnet, ist eigentlich der Meinung, dass die bessere Welt die der Literatur sein müsste. Dass die Wirklichkeit spannender sein könnte als alle Riesen und Räuber zusammen, diese Erkenntnis bleibt im letzten Kapitel der nächsten Generation überlassen. Auch hier, wie im Abschlussband von „Harry Potter“, tut sich ein Tor auf, das theoretisch viele Fortsetzungen möglich macht. Auch wenn beide Autorinnen erklärtermaßen erst einmal genug haben von ihren Geschichten.

Cornelia Funke: Tintentod. Roman. C. Dressler Verlag, Hamburg 2007. 762 Seiten, 22,90 €.

Christina Tilmann

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