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"Das Glück in glücksfernen Zeiten" von Wilhelm Genanzino: Tröstende Brotscheibe

In seinem neuen Roman sucht und findet Wilhelm Genazino "Das Glück in glücksfernen Zeiten". Der Roman enthält Sätze und Eingebungen, die man nicht immer versteht, weil sie so fremdartig sind. Im nächsten Moment möchte man sie sich wieder am liebsten einrahmen.

Glück und Unglück, das demonstriert allein sein Titel, liegen in diesem neuen, „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ heißenden Roman von Wilhelm Genazino dicht beisammen. Um nicht zu sagen: Sie bedingen einander. Denn zum einen gleichen sich manche Glück- und Unglücksauslöser für Genazinos Helden, den 41-jährigen Organisationsleiter einer Großwäscherei, Gerhard Warlich. „Von meinen Beobachtungen geht das von mir erwartete Glück aus“, weiß er, als er einem Kuchendieb beim Verzehr seines Diebesguts zuschaut. Oder eine junge Frau mit tiefem Ausschnitt sieht, wie sie auf einer Bank sitzt und Weintrauben isst. Andererseits ist dieses Glück nicht ungetrübt, steht es doch immer in Verbindung mit einer gewissen Unruhe. Und so schränkt er ein: „Wenn ich ein Buch schreiben könnte, wäre seine Hauptthese: Der Mensch kann Katastrophen immer nur betrachten, nie verstehen.“

Das Besänftigende am Unglück wiederum ist, dass auch das Glück nie ganz aus der Welt ist: „Das Glück am Glück“, hat Wilhelm Genazino vor zwei Jahren in seiner Dankesrede für den Kleist-Preis gesagt, „ist seine Aufschiebbarkeit. Auch wer das Glück verfehlt hat, darf es wieder neu suchen, ohne sich von seinem Scheitern beeinträchtigt zu fühlen“. Genau das macht dieser Warlich in diesem Genazino-Roman die ganze Zeit. Zu Beginn wirkt es sogar, als präsentiere sich hier gar ein leidlich erfolgreicher Glückssucher und Glücksfinder. Warlich hat zwar die typischen Macken eines Genazino-Helden, sei es, dass er halbzerissene Unterhemden trägt, sei es, dass er einer halbtoten Wespe bei ihren Flugbemühungen zuschaut. Im Großen und Ganzen aber zeigt er sich mit seinen Lebensverhältnissen zufrieden, mit seiner Freundin Traudel, dem Job, seiner Wohnung, gleichwohl ihn zuweilen zwanghafte Gedanken umtreiben, sein Leben entscheidend zu verändern. Vorerst bescheidet er sich jedoch mit dem hinreißenden Plan, eine „Schule der Besänftigung“ zu gründen und in dieser über den „Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen“ Vorlesungen zu halten. Dafür bittet er sogar beim städtischen Kulturdezernat um Raum und Unterstützung.

Das alles hat bisweilen was Lichtes, so als habe Wilhelm Genazino seinen in den letzten Romanen stark durchscheinenden Kultur- und Gesellschaftspessimismus in einem Herrentäschchen zurückgelassen und würde nun gestärkt und tatendrangig in die Zukunft schauen. Ohne dabei allerdings seine Poetik und sein Schreibprogramm zu verraten: „Das Glück in glücksfernen Zeiten“, erschienen im typischen Genazino-Rhythmus, der alle zwei Jahre einen dichten Roman von rund 150, 160 Seiten vorsieht, steckt wieder voller typischer Genazino-Essentials: von den schon erwähnten, zeitweilig glücksspendenden gedehnten Blicken bis zu den immer wiederkehrenden Erinnerungen an die verstorbenen Eltern, von den Reflexionen über Scham, Schuld und Peinlickeiten aller Art bis zu den wundervollen Sexszenchen, die jeder Erotik spotten. Der Roman enthält Sätze und Eingebungen, die man nicht immer versteht, weil sie so fremdartig sind und sich allein der verschrobenen Warlich-Welt verdanken, die man im nächsten Moment aber schon wieder am liebsten herausschreiben und sich einrahmen möchte: „Die meisten Männer, glaube ich, verstehen nicht, dass sie eine Familie haben.“

Das Neue und Tragische an diesem Genazino-Roman ist aber, dass Warlich urplötzlich gewissermaßen über den Strich gerät. Er bekommt die Gesamtmerkwürdigkeiten des Lebens nicht mehr so gut in den Griff, und sein eher banal-alltägliches Scheitern zeitigt nicht ganz alltägliche Folgen. Kann er noch damit leben, dass ihn sein Chef von heute auf morgen vor die Tür setzt, so lässt ihn ein paar Tage später die Begegnung mit einer alten Freundin und deren Sohn dekompensieren. Als er sie wegen einer bevorstehenden Operation trösten will, drückt er ihr eine trockene Brotscheibe in die Hand. Die nachfolgende Irritation mündet in ein haltloses Weinen seinerseits und der Einlieferung durch Freundin Traudel in eine psychiatrische Klinik.

Das ist genauso komisch wie es tragisch ist, und natürlich begibt sich Warlich auch in der Psychiatrie in eine trotz der vielen Medikamente wache, aufgeklärte Beobachterposition, die ihn zu vielerlei Anschauungen und Reflexionen wie dieser veranlasst: „Ich wundere mich, warum meine Melancholie und der Rest der Welt so gut zueinander passen.“

Doch genauso offensichtlich ist, dass Wilhelm Genazino mit diesem Roman einmal mehr seiner einst in einem Essay geäußerten Vermutung Ausdruck gegegeben hat, „jederzeit verfügbare Lustigkeit“ gehöre „genausowenig in unser Leben wie das Glück“. Dass die Lektüre seiner kurzen, wunderbaren, sich nur in Nuancen verändernden Romane trotzdem kleine Glücksgefühle auszulösen vermag, steht auf einem anderen Blatt.

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman. Hanser Verlag, München 2009. 158 Seiten, 17, 90 €.

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