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© Sony

E-Book: Kultur und Content

Untergangsgeheul und Technojubel wechseln sich bei der derzeitigen Diskussion über das E-Book ab. Auch die Frankfurter Buchmesse bleibt davon nicht verschont. Schon jetzt scheint sicher, der E-Reader wird Lesen und Schreiben verändern.

Von Gregor Dotzauer

Siegfried Unseld, der frühere Verleger des Suhrkamp Verlages, erzählte gerne, dass der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan den Tod des gedruckten Buches für den Dezember 1980 vorausgesagt habe. Was aber sei geschehen? Am Silvestertag jenes Jahres sei McLuhan selbst gestorben. Die Pointe hat nicht nur den Makel, dass sie McLuhans Prophezeiung von der Implosion unserer „Gutenberg-Galaxis“, wie er sie 1962 in seinem gleichnamigen Buch aussprach, unzulässig verkürzt. Auch Unseld ist seit sechs Jahren tot – und Suhrkamp scheint jenseits hausgemachter Probleme auch ein Leidtragender des globalen Nervensystems zu sein, das McLuhan im Fernsehen erkannte: als Vorbote einer audiovisuellen Ära, in der das Buch seine Rolle als Leitmedium verlieren werde. Wie hätten ihn erst die Möglichkeiten des Internets begeistert. Denn er war ein Apologet des Neuen, kein Apokalyptiker. Zugleich war er ein entschiedener Gegner der These, dass neue Medien ältere einfach ersetzen. Sie haben höchstens eine höhere Reichweite.

Mehr als Untergangsgeheul und Technojubel scheint auch die gegenwärtige Diskussion über das E-Book nicht zuzulassen. An diesem Mittwoch, wenn Sony auf der Frankfurter Buchmesse die neue Generation seines E-Readers für Europa vorstellt und dabei eine Kooperation mit dem Barsortimenter Libri bekannt geben wird, beginnt der endgültige Anfang vom Ende, befürchten einige Lektoren. Sie sehen ihre Kalkulationen für gedruckte Bücher einstürzen. Wenn von ohnehin geringen Auflagen, so glauben sie, noch Teile ins Virtuelle abwandern, rentiert sich in vielen Fällen das physische Buch nicht mehr. Andere sind geradezu verliebt in den Kindle von Amazon: einen E-Reader, der bisher nur in den USA erhältlich war, doch seine europäische Premiere voraussichtlich auch in Frankfurt feiern wird. Er bietet drahtlosen Zugang zum Netz auf Kosten von Amazon, Bücher zum Einheitspreis von 9,99 Dollar allerdings nur im hauseigenen Format; der Sony Reader liest Word-Dokumente und PDFs. In Amerika hat Amazon damit bei neuen Titeln aus Publikumsverlagen im Augenblick ein Monopol.

Der Witz ist, dass Verängstigte und Bewunderer mitunter in einer Person anzutreffen sind. Tatsächlich schließen beide Haltungen einander ja keineswegs aus - wie marktwirtschaftliche und medienökologische Fragen bei allem, was sie verbindet, zurzeit überhaupt durcheinander gehen. Der praktische Nutzen, den jeder Berufsleser oder Student hat, der statt Manuskriptbergen nur noch ein schlankes Gerät mit sich führen muss, das sich auch auf der Terrasse blendungsfrei benutzen lässt, wetteifert mit der kulturellen Sorge, dass das neue Medium ein ganzes Korpus von Texten verschmäht.

Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass jemand Friedrich Schillers berühmte Elegie „Der Spaziergang“ auf dem Sony Reader liest? Da dürfte es allein von der Darstellung der Langzeilen her schwierig werden. Kann man sich vorstellen, dass jemand Adornos „Ästhetische Theorie“ als E-Book studiert? Da dürfte die Konzentration nach übereinstimmender Erfahrung trotz gestochen scharfer E-Ink-Technologie mindestens doppelt so schnell erlahmen wie auf dem Papier. Wenn es aber solche Komplexitätsgrenzen gibt: Rufen sie Autoren nicht zu schneller erfassbaren, glatteren, eingängigeren Texten auf? Das Entscheidende beider Beispiele besteht darin, dass es die Unterscheidung zwischen einem auf Verwertung gerichteten Lesen, das als Reich des E-Books gilt, und einem genießenden Lesen, das als Reich des gedruckten Buches gilt, zu Lasten einer viel elementareren Frage aufhebt: der des Textverständnisses selbst.

Es liegt also nahe, zwischendurch auf den Gedanken zu verfallen, es stünde die gesamte westliche Schriftkultur zur Disposition. Doch weder sollte man so tun, als fänden nicht auch Beipackzettel von Medikamenten oder das Kleingedruckte in Verträgen tagtäglich miserable Leser, noch darf man sich einbilden, dass mit dem E-Reader eine völlig neue kulturelle Qualität beim Umbau unserer Informationsgesellschaft erreicht sei. Geschichtlich bedeutendere Einschnitte sind die Einführung des Mosaic-Browsers 1993, der das Internet erstmals für eine breitere Öffentlichkeit navigierbar machte, oder die weltweiten Digitalisierungsprojekte der letzten Jahre.

Es tut der allgemeinen Gelassenheit darüber hinaus gut, sich einmal aus der Perspektive eines Princeton-Historikers wie Anthony Grafton schildern zu lassen, welche absurden Wege die Speicherung menschlichen Wissens von den Tontafeln der Mesopotamier drei Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung bis zum Google Book Search genommen hat. Unter dem Titel „Future Reading“ schrieb er letzten November im „New Yorker“ (www.newyorker.com) einen glänzenden Essay über „Digitization and its discontents“, der nachdrücklich klarmacht, warum Digital- und Print-Kultur wechselseitig aufeinander angewiesen sind.

Als rabenschwarze Ergänzung empfiehlt sich Boris Kachkas vor einem Monat im „New York Magazine“ (www.nymag.com) erschienene Reportage „The End“. Lakonisch erzählt er, wie die amerikanische Buchbranche durch eine Zockermentalität, die auch das einheimische Bankensystem zu Fall gebracht hat, am Rande des Zusammenbruchs steht. Es geht um den allgemeinen Vorschusswahn und unvernünftige Profiterwartungen, um illiterate Verleger und überflüssig werdende Lektoren – um eine Welt, in der kein Stein mehr auf dem anderen ist, Rettung aber darin gesucht wird, die Wetteinsätze weiter zu erhöhen. Schließlich beschreibt sie die Angst vor Amazons Kindle, das Insider als trojanisches Pferd betrachten, mit dem Ziel, auf dem E-Book-Markt eine Dominanz zu erringen, die Verlage durch Rabatte von 50 Prozent in die Knie zwingt.

Auf dem Umweg über die Gewinnerwartungen aus dem „Content“ steht mit den E-Reader also doch so etwas wie ein kultureller Umbruch ins Haus. Vielleicht betrifft er aber mehr noch die großen journalistischen Rahmensysteme – marginale Reflexionsformen wie die Literaturkritik gar nicht berücksichtigt. Was berechtigt zu der Annahme, dass die Masse des Online-Journalismus nicht auch die Standards des Print-Journalismus verändert? Wird die Kindle-Edition der „New York Times“ (Monatsabo 13,99 USD), nicht zu kürzeren Texten führen?

Wie gut, dass Deutschland nicht vorhat, ein Fähnchen im Wind des Marktes zu sein. Zur Buchmesse soll sogar noch einmal libreka.de, die vor sich hindümpelnde frühere „Volltextsuche online“ des Börsenvereins einen neuen Schub erhalten. Auf vielen Ebenen bereitet man sich auf die Zukunft vor, im Wissen, dass in zwei Jahren schon wieder andere Allianzen geschmiedet und elektronische Formate entwickelt werden könnten.

Ocelot.de etwa ist eine Plattform, zu der sich sieben Verlage – vom Frankfurter Campus Verlag über den Berliner Ch. Links Verlag bis zum Wiener Passagen Verlag – zusammengeschlossen haben, um ihre Bücher zu vermarkten, bei Bedarf auch kapitelweise. Wer beispielsweise zitierfähige Auskünfte aus der Campus-Einführung in die arabisch-islamische Philosophie zum „Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“ erhalten will, bekommt für 88 Cent sechs Monate lang Lektürezugang zu den 13 Seiten des Kapitels. Andere Bücher lassen sich, mit einem digitalem Wasserzeichen zur Verhinderung von Raubkopien, komplett herunterladen. Das Geschäft, sagt Christoph Links, sei zwar noch nicht rentabel, aber es mache Fortschritte. Mit Subnotebook und E-Reader seien zum ersten Mal komfortable Hardware-Voraussetzungen gegeben. Und sei eine Ausleihe in der Staatsbibliothek nicht durch Fahrt, Ausweisgebühr und Kopierentgelt mit höheren Kosten verbunden als ein schneller Download? Mit Joachim Walters vergriffenem „Sicherungsbereich Literatur“, einem 900-seitigen Standardwerk über Schriftsteller und Stasi in der DDR hat er sogar einen richtigen kleinen Bestseller im Programm. Links weiß genau, dass diese Art von Geschäften „anders als bei schnell vergänglicher Belletristik“ im Sachbuch am besten funktioniert.

Auch Berlins öffentliche Bibliotheken rüsten sich. Seit Ende Mai bieten sie unter www.voebb24.de bei reger Nachfrage die Ausleihe von rund 4000 elektronischen Medien vom Hörbuch bis zum „Spiegel“ an, zu zwei Dritteln aber E-Books im PDF-Format mit dem Schwerpunkt Bildung und Karriere. Zwei Wochen lang kann man sie lesen, danach lassen sich die Dateien nicht mehr öffnen. Die Zeiten, als man Leihfristen überziehen konnte, sind vorbei.

Spricht das nun für oder gegen eine längere Halbwertszeit von digitalen Texten? Es gibt – ohne Ansehen der Lebensdauer der Hardware – Anhaltspunkte für beides. Einerseits liegt E-Books ein vampiristisches Verhältnis zum gedruckten Buch zu Grunde: Sie funktionieren nur in einem Nebenmarkt, der von der Aufmerksamkeit für das physische Buch zehrt. Eine Welt, in der nur noch E-Books existieren, könnte kaum noch Buchereignisse hervorbringen – und damit einen kulturellen Kanon. Andererseits bringen Suchmaschinen selbst entlegensten Titeln eine Blutzufuhr wie nie zuvor in der Geschichte des Wissens. Aber das sind futuristische Fragen auf einem Gebiet, in dem sich momentan nur jeder fragt: Wer macht das Geschäft?

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