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Eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs: Raus aus dem elenden Graben

Christian Th. Müller zeigt, warum es dem Ersten Weltkrieg an Bewegung fehlen musste.

Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist viel geschrieben worden, und fast immer steht die Frage im Raum: Wer trägt die Schuld? Christopher Clark hat dazu in seinem magistralen Werk „Die Schlafwandler“ (dt. 2013) gesagt, was auf dem Stand der Forschung zu sagen ist: Viele Ursachen kamen zusammen, doch ein einzelner Verursacher lässt sich nicht benennen.

Allerdings hatten sich alle Kriegsparteien mehr oder weniger auf den „Großen Krieg“ vorbereitet. Frankreich und Deutschland bereits seit 1871, denn beiden Seiten war klar, dass der Streit um Elsass-Lothringen nicht friedlich beizulegen war, sondern einen erneuten „Waffengang“, wie man das seinerzeit nannte, erfordern musste.

Keiner hatte es kommen sehen

Alle Kriegsparteien waren vom Verlauf des Krieges, in den sie nach der Julikrise 1914 in einem nicht mehr aufzuhaltenden Automatismus hineinstolperten, erst überrascht, dann entsetzt. Diesen Krieg, wie er denn tatsächlich ablief, hatte niemand gewollt, aber auch kein Militär antizipiert. Obwohl – es gab Ausnahmen, Militärtheoretiker, die den Verlauf von Stellungs- und Ermattungskrieg vorausgeahnt und beschrieben hatten.

Nun hat Christian Th. Müller, Militärhistoriker und Privatdozent an der Uni Potsdam, den Ersten Weltkrieg unter der zunächst überraschenden Fragestellung betrachtet, ob und inwieweit ein Bewegungskrieg möglich war. Folgerichtig trägt sein bestechend sachliches Buch den Titel „Jenseits der Materialschlacht“. Müller untersucht, warum es zum Stellungskrieg kam und woran alle Versuche scheiterten, zur anfänglichen Bewegung zurückzukehren, um das Ziel jedenfalls aller damaligen Kriegsführung doch noch zu erreichen: den Feind (militärisch) zu vernichten.

Clausewitz wusste es besser

„Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel“, so zitiert Müller Clausewitz aus dessen berühmter Schrift „Vom Kriege“ – und fügt trocken hinzu: „1914 verfügte keine der kriegführenden Mächte einen Plan, der die Bezeichnung ,Kriegsplan‘ verdient hätte. Stattdessen zogen sie mit mehr oder minder ausgefeilten Operationsplänen in den Ersten Weltkrieg.“

Diese Pläne wurden schnell zu Makulatur. Anfangs war die deutsche Seite überlegen, so im August 1914, als sich ihr die französische Armee in leuchtend rot-blauen Uniformen entgegenwarf, wobei „die oben auf den Tornister geschnallten glänzenden Kochgeschirre wie Zielmarkierungen“ wirkten. Doch die französische Niederlage blieb Episode. Der deutsche Vorstoß nach dem geradezu sakrosankten Schlieffen-Plan – erst Frankreich besiegen und sich dann gegen das mit Frankreich verbündete Russland wenden – erwies sich insgesamt als undurchführbar. Beim Durchmarsch durch Nordfrankreich zogen sich die deutschen Armeen auseinander, die französische Gegenoffensive Anfang September zwang zum Rückzug.

Nach der Marneschlacht kein Sieg mehr in Sicht

Die „mit dem Ausgang der Marneschlacht verbundene Niederlage“, urteilt Müller, war „strategischer Natur“: „Das Kalkül des deutschen Feldzugplanes, das Dilemma des Zweifrontenkriegs durch rasche, entscheidende Erfolge im Westen aufzulösen, war damit gescheitert.“ Allerdings scheiterte unmittelbar darauf auch die französische Hoffnung, den Feind entscheidend zurückwerfen zu können. Man hätte, schlussfolgert der Leser, den Krieg bereits Ende 1914 mit einem Patt beenden können, ja müssen.

Der gängigen Vorstellung – so Müller –, „mit ausgreifenden Umfassungsmanövern feldzugs- oder gar kriegsentscheidende Vernichtungsschlachten schlagen zu können, fehlte die materielle Grundlage.“ Die Infanterie – die Truppe zu Fuß – bestimmte das (Schnecken-)Tempo, während gleichzeitig die in den Jahren zuvor enorm entwickelte Waffen- und Geschütztechnik jeden schnellen Vorstoß aufzuhalten vermochte. Rasche Umgruppierungen scheiterten an fehlender Transportkapazität – die Eisenbahn bildete, wie schon 1870/71, weiterhin das Rückgrat –, und eher noch schlimmer sah es bei der Versorgung der Truppen aus. Es mangelte, kurz gesagt, an einer kriegstauglichen Infrastruktur. Noch immer bildeten Pferde das vorherrschende Transportmittel – und starben zu Tausenden an Überlastung und Futtermangel.

Spaten statt Gewehr

Es kam dieser Kriegsverlauf nicht gänzlich überraschend. Müller zitiert kritische Stimmen wie die des russischen Friedensforschers Johann von Bloch, der bereits 1898 vorausgesehen hatte: „Jedermann wird sich im nächsten Krieg eingraben. Es wird ein riesiger Grabenkrieg sein. Der Spaten wird für den Soldaten so wichtig sein wie das Gewehr. (...) Die Soldaten mögen mit aller Kraft kämpfen, die endgültige Entscheidung wird der Hunger fällen.“ Genau so kam es, erst in Russland, dann in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich. Doch vor 1914 und weit danach setzten die Militärs auf die enorm gewachsene Feuerkraft und propagierten gar, so der französische Marschall und spätere alliierte Oberbefehlshaber Foch, die offensive à outrance, den „Angriff bis zum Äußersten“.

Was das in den Materialschlachten etwa vor Verdun oder an der Somme bedeutete, schildert Müller im Hinblick auf die nicht mehr mögliche Bewegung. Der unaufhörliche Granatbeschuss verwandelte die Landschaft in einen einzigen Sumpf, der eben auch jeden Gegenangriff unmöglich machte. Nun ist es Müller aber gerade um die Versuche zu tun, den Krieg wieder in Bewegung zu bringen. Erhellend sind seine Exkurse über die peripheren Schauplätze von Rumänien bis Palästina, die hierzulande in der Erinnerung des Krieges kaum vorkommen. Ein berühmtes Beispiel für den Übergang vom Stellungs- in den Bewegungskrieg gibt es allerdings: die Isonzofront zwischen Italien und Österreich-Ungarn. Zwischen Ende Oktober und Mitte November 1917 gelang es den Mittelmächten – die österreichische Streitmacht war um eine deutsche Armee verstärkt worden –, den italienischen Gegner 140 Kilometer weit in die Ebene des östlichen Veneto zurückzudrängen. Doch wieder ließen Erschöpfung und mangelnder Nachschub den Angriff verläppern.

Der Panzer, die Waffe der Zukunft

Wie eine zukünftige Kriegsführung aussehen würde, zeigte sich hingegen an der Westfront in noch schemenhafter Form: Es war der Panzer; genauer gesagt, Panzerverbände in Verbindung mit Luftaufklärung und -unterstützung, die den Stellungskrieg aushebelten. Die ersten Versuche – wie die berühmt-berüchtigte „Tankschlacht von Cambrai“ am 20. November 1917 – endeten mit dem mindestens hälftigen Ausfall der Panzer bereits am ersten Tag. Aber das Potenzial der Panzerwaffe im Verbund mit den Luftstreitkräften war erkannt – und bildete zwanzig Jahre später die Grundlage der „Blitzkrieg“-Erfolge der Wehrmacht.

Immerhin: „Nach mehr als drei Jahren Stellungskrieg war es 1918 gelungen, das Problem des taktischen Durchbruchs (...) zu lösen (...). Jeweils unterstützt durch ebenso heftige wie überraschende Feuerschläge der Artillerie hatten im März bzw. August 1918 sowohl die Infiltrationstaktik der deutschen Infanterie als auch der massive alliierte Panzereinsatz zu taktischen Durchbrüchen (...) geführt.“ Aber: „Was jedoch in beiden Fällen noch nicht möglich war, war die operative Erweiterung des Durchbruchs. Dafür fehlten (...) gleichermaßen schnelle und geländegängige Gefechts- und Transportfahrzeuge.“

Hunger und Erschöpfung entscheiden Kriege

So fällt denn Müllers Schlussbilanz entsprechend nüchtern aus: „Entschieden wurde der Krieg aber letztlich nicht durch innovative Techniken und Taktiken, sondern – wie es Johann von Bloch vorausgesagt hatte – durch die kumulativ wirkenden Faktoren Hunger und Erschöpfung.“ Nicht zu vergessen die insgesamt neuneinhalb Millionen Soldaten, die ihr Leben verloren hatten.

„Erst mit der Motorisierung und Mechanisierung signifikanter Heeresteile ab den 1930er Jahren erhielt das (...) Ideal des Bewegungskrieges – zumindest was das raumgreifende Manöver betrifft – tatsächlich eine materielle Grundlage“, lässt Müller sein Buch ausklingen. Doch zuvor hat Müller, der noch als junger Rekrut in der NVA gedient hat, eine andere Lehre parat: „Ein Land von der Größe Russlands bzw. der Sowjetunion ließ sich auch mit hochgezüchteter operativer Finesse nicht besiegen, solange Regierung, Streitkräfte und Bevölkerung – allen Teilniederlagen zum Trotz – nicht bereit waren, von einer Fortsetzung ihres Widerstandes abzusehen.“ Quod erat demonstrandum, in den Jahren 1941-45, möchte man hinzufügen. Man sieht den Krieg – beide Weltkriege – nach der Lektüre von Müllers Buch mit anderen Augen.

Christian Th. Müller: Jenseits der Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg als Bewegungskrieg. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018. 297 S. mit 28 Abb. und 20 Karten, 39,90 €.

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