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Eine Geschichte der „Ostarbeiter“: Der große Betrug

Vom Deutschen Reich ausgebeutet, in der Sowjetunion verfemt

Vor 30 Jahren erhielt die grüne Heinrich-Böll-Stiftung 1989 Besuch aus Moskau: die von Andrej Sacharow und seinen Mitstreitern gegründete Menschenrechtsorganisation „Memorial“ auf der Suche nach Partnern für die Aufarbeitung der deutsch-sowjetischen Geschichte unter zwei Diktaturen. Das war schon ein Lebensthema Heinrich Bölls und Lew Kopelews, sodass sich beide Seiten rasch zusammenfanden. Erstes gemeinsames Projekt wurde eine Erkundung der Schicksale sogenannter „Ostarbeiter“ in Deutschland 1941–1945 und in der Sowjetunion, wo sie noch einmal Lager und Zwangsarbeit als vermeintliche Verräter und Kollaborateure erwarteten. Dabei waren die meisten von ihnen aus dem besetzten Teil Russlands nach Deutschland verschleppt worden, um Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben, Industrie und Landwirtschaft und als Dienstboten in privaten Haushalten zu leisten.

„Memorial“ – unter Gorbatschow noch wohlgelitten – konnte 1990 in der regierungsamtlichen „Iswestija“ die noch lebenden Opfer und Zeitzeugen aufrufen, über ihre Erfahrungen zu berichten. Auch durch das ungedeckte Versprechen möglicher Entschädigungen motiviert gingen daraufhin rund 400 000 Zuschriften ein, deren Auswertung zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm. Interviews mussten geführt, Briefe, Fotos und Dokumente gesammelt und aufgearbeitet werden, bevor 2016 die fünfteilige Dokumentation erscheinen konnte, die jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Für immer gezeichnet. Die Geschichte der ,Ostarbeiter‘“ vorliegt.

Erst "Anwerbung", dann Zwangsarbeit

Nur zögernd haben die Herausgeber den diskriminierenden Begriff „Ostarbeiter“ aus der deutschen Behördensprache übernommen, aber er war nun einmal – vergleichbar mit dem gelben Judenstern – als blauer Aufnäher mit dem Schriftzug „Ost“ das Merk- und Brandmal, das die gemeinsame Erinnerung der Opfer dominiert. Er hat sie für immer gezeichnet.

Die Rede ist von rund 2,2 Millionen Zivilarbeitern und -arbeiterinnen der insgesamt 2,8 Millionen „im Arbeitseinsatz befindlich“ gemeldeten Sowjetbürger in Deutschland (die übrigen 600 000 waren Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz). Die zivilen „Ostarbeiter“ waren zumeist ausgesuchte, arbeitsfähige junge Leute, etwa zur Hälfte Frauen. Anfangs durch „Anwerbung“ in den besetzten Gebieten rekrutiert, wurden sie später – wegen Misserfolgs der mit falschen Versprechungen geführten Kampagne – unter Zwang ausgehoben und zum „Arbeitseinsatz“ deportiert.

Im „Verpflichtungsbescheid“ war zwar von tariflicher Bezahlung die Rede, aber die bestand meist nur aus einem Taschengeld oder Einkaufsgutscheinen; auf dem Land oft nur aus Verpflegung und Unterkunft in Scheunen und Viehställen. Davon zeugen die Brief- und Bilddokumente des 400 Seiten starken Text- und Bildbands, unter denen Postkarten und Ansichtskarten überwiegen, die außer Grüßen in die Heimat auch drastische Lagebeschreibungen enthalten: „In diesem Haus leben wir. Von außen ist es sehr schön, aber unser Leben drinnen ist ziemlich schlecht.“

Die Sowjetgesellschaft wollte nichts hören

Noch schlechter natürlich in den Barackenlagern, wo bis zu 30 Personen in einem Raum untergebracht waren. „Zuweilen“, heißt es im Vorwort zur russischen Ausgabe, „saß das Erlebte so tief, dass sich beim Erzählen wie von selbst deutsche Begriffe aus dem damaligen Leben einschlichen – Appell, Holzpantoffel, Kantine, Lagerführer usw.“. Nicht alle Befragten konnten zusammenhängend von ihren Aufenthalten und Erlebnisse erzählen, zumal wenn sie kaum Deutsch verstanden und ihre Stellen mehrfach gewechselt hatten. Auch Selbstzensur und das langjährige Schweigegebot der Sowjetgesellschaft zeigten ihre Nachwirkung. „Die einen sprachen über das Erlebte mit erstaunlicher Offenheit, andere unterwarfen ihre Erinnerungen bestimmten Stereotypen, um alles Schlimme, Schmerzliche und Tragische zu umgehen.“

Das gilt im Besonderen für die Aufnahme der Heimkehrer in der Sowjetunion. Ihnen war nach ihrer Befreiung eine glückliche Heimkehr in ein blühendes Sowjetparadies versprochen worden, nachdem nicht wenige im Westen bleiben und auswandern wollten. Allerdings hatten die Alliierten vereinbart, alle Sowjetbürger zu repatriieren. Ausnahmen gab es nur in einem kurzen Zeitfenster 1945.

Doppelte Scham

Die Mehrheit, die sich ohnehin für die Rückkehr zu ihren Familien entschieden hatte, erwartete jedoch eine peinliche „Filtration“ in sowjetischen Auffanglagern mit willkürlichen Standardurteilen auf zehn Jahre Arbeitslager. Nach ihrer Rückkehr aus dem Gulag schwiegen nicht nur die meisten aus doppelter Scham, sondern auch die sowjetische Gesellschaft aus falschem Stolz über einen unbefleckten Sieg über den Faschismus. In diesem Punkt erspart Memorial auch dem eigenen Land nicht die Schande, die in erster Linie Hitlers Regime gebührt. Es ist für beide Seiten wenig tröstlich, dass die geschundenen „Ostarbeiter“ erst spät – in Russland moralische und aus Deutschland bescheidene materielle – Entschädigung erfuhren. Das vorliegende Buch ist ein Beitrag dazu.

Memorial Moskau, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“ in Briefen, Erinnerungen u. Interviews. Chr. Links Verlag, Berlin 2019. 424 S., 63 s/w u. 294 Farbabb., 28 €.

Hannes Schwenger

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