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Gebäude des Geschlossenen Jugendwerkhofs und Hofbereich mit Sturmbahn, um 1978, im sächsischen Torgau. Die Umerziehungsanstalt wurde vor 50 Jahren, am 1. Mai 1964, eröffnet.

© epd

Eine rebellische Jugend in der DDR: Aus dem System gefallen

Mit 16 Jahren Einweisung in den Jugendwerkhof Torgau: Ein neues, erschütterndes Buch zeigt, wie ein unangepasstes Jugendleben in der DDR ins gesellschaftliche Abseits führen konnte - geradewegs in die Hölle.

Von Matthias Schlegel

"Bei Anwendung eines Schlagstocks ist dieser nur aus dem Handgelenk zu schlagen und nicht mit gestrecktem Arm. Dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen. Alle anderen Stellen des Körpers sind zu vermeiden, da sonst größere körperliche Schäden entstehen können.“

In jedem Jahr wurden dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau vom Ministerium für Volksbildung 25 neue Schlagstöcke bewilligt. Im System der Heimerziehung in der DDR stand Torgau ganz oben – oder ganz unten, je nach Perspektive. Es war die Endstation für unangepasste, aufsässige Jugendliche, die diszipliniert, umerzogen werden sollten. 14- bis 18-jährige Jungen und Mädchen, die aus anderen Heimen ausgebüxt und wieder eingefangen worden waren. Die sich der sozialistischen Bildung und Erziehung in der DDR entzogen, Widerspruchsgeist zeigten und sich den gesellschaftlichen Normen verweigerten. Vor 50 Jahren, am 1. Mai 1964, wurde die Umerziehungsanstalt in Torgau eröffnet.

Sonja Plog kam als 16-Jährige nach Torgau. „Ein Geruch nach Chlor und Kacke. Meine Kehle schrie nach Luft … Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Tür. Es musste mich doch jemand hören … ,Ich werde Dir helfen! So eine Schweinerei hier zu veranstalten! … Da! Hast’n Grund zu heulen!‘ Wie ein Kind, das seine Puppe wütend fortschleudert, so flog ich gegen die Pritsche … Ich bin noch ein Kind, 1,53 Meter, 46 Kilo, seit zwei Monaten 16 Jahre alt, zerbrechlich wie dünnes Glas.“ Es ist ein Buch, dessen Sätze wie Peitschen knallen. Das einen frösteln und das allgegenwärtige „Es- war-nicht-alles-schlecht“ wie Hohn klingen lässt. Es war so vieles noch viel schlechter. Unvorstellbar schlimm.

In diesem Buch erzählt die Journalistin Silke Kettelhake die Geschichte der heute 62-jährigen Sonja Rachow. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das – von der alleinerziehenden Mutter nicht geliebt und deshalb überstreng erzogen und zugleich vernachlässigt – aus der kleinen, kaputten Familienwelt in Rostock ausbricht; das in der Schule rebelliert, Autoritäten nicht anerkennt, sich als Pubertierende zu den langhaarigen „Gammlern“ hingezogen fühlt, die sich am Brunnen nahe dem Kaufhaus treffen. Sie sind den „Staatsorganen“ ein Dorn im Auge: negativ, dekadent, aufsässig. Wer der Volkspolizei in diesen Kreisen einmal auffällt, gerät unweigerlich hinein in den Strudel der „Maßnahmen“: Vorladung, Zuführung, Heimeinweisung.

So wird auch an Sonja exerziert, was der Staat unter „Umerziehung“ versteht und was nichts anderes ist als der Versuch, einen Willen zu brechen. Das Buch gibt dabei in den Alltagsschilderungen mehr über die DDR preis als eine ganze Enzyklopädie – mit rigoroser Offenheit, außergewöhnlich präzise und detailliert.

Im Jugendwerkhof werden Sonja die Haare geschoren. Wenn die Gruppe die Arbeitsnormen nicht schafft, werden alle bestraft – und die Gruppe rächt sich an den Schwächsten. Man muss stark sein, um zu überleben. Wer aufmuckt, wird mit Strafsport brutal körperlich gezüchtigt. Schläge mit dem Schlüsselbund sind an der Tagesordnung. Mehr als 4000 Jugendliche haben in den 20 Jahren des Bestehens die Hölle des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau durchlitten.

Als im August 1968 in Prag sowjetische Panzer einfahren, stirbt für Sonja in Torgau jede Hoffnung. Am Brunnen in Rostock hatten sie wenige Monate zuvor noch Zuversicht geschöpft aus dem, was sich in Prag tat. Sie wird in den Jugendwerkhof in Crimmitschau überstellt. Zur Arbeit geht es täglich in die Großwäscherei im benachbarten Glauchau: „Die Haut an den Händen bis hoch unter die Arme juckte und löste sich ab. Von der feuchten, chemievergifteten Luft der Imprägniermittel und Spülbäder holte ich mir ein bleibendes Asthmakeuchen.“

Als Sonja mit 18 Jahren das Heim verlässt, ist sie physisch und psychisch angeschlagen, eine bessere Staatsbürgerin hat Margot Honeckers Jugendhilfesystem aber nicht aus ihr gemacht. An ein geregeltes Arbeitsleben mag sie sich nicht gewöhnen. Aber weil sie nun volljährig ist, droht ihr mit der Anwendung des Paragrafen 249 der „richtige“ Knast: wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“. Sie wird von der Straße weg verhaftet und im stickigen Gefängniszug in die Vollzugsanstalt „Roter Ochse“ in Halle transportiert.

Nach der Entlassung bleibt der Makel an ihr hängen. Statt eines Personalausweises erhält sie einen sogenannten PM 12, einen vorläufigen Personalausweis. „Mit dem PM 12 warst du gebrandmarkt.“ Ihn erhielten ehemalige Häftlinge oder Ausreisewillige, also politisch Unzuverlässige. Gleichwohl gelingt es ihr, eine Art „normales Leben“ zu führen: Sie heiratet, zieht zwei Kinder groß. Im Frühjahr 1989 kommt sie über einen Pfarrer in Kontakt mit oppositionellen Kreisen. Sie trennt sich von ihrem Mann, wird mit zwei anderen zu den ersten Kontaktpersonen des Neuen Forums außerhalb Rostocks im Norden. „Das erste Mal im Leben frei atmen, das erste Mal im Leben Menschen, die denken wie ich. Das hat mich so verdammt hingerissen, wie eine neue Liebe.“

Am 9. November ist die Mauer offen. Dass am selben Tag Horst Kretzschmar, der langjährige Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau, an Leberzirrhose stirbt, erfährt sie erst Jahre später. Am 16. November 1989 meldet Sonja, inzwischen verheiratete Rachow, beim Volkspolizei-Kreisamt die erste Demonstration in ihrem Wohnort Neubukow an. Und sie hält von der Kanzel der Stadtkirche ihre erste Rede, wird als Ansprechpartnerin des Neuen Forums mit tausenderlei Problemen konfrontiert. Gemeinsam mit anderen hebt sie das Waffenlager der KoKo in Kavelstorf bei Rostock aus.

Als eine der mecklenburgischen Sprecherinnen vertritt Sonja Rachow das Land im Bundeskoordinierungsrat des Neuen Forums – und ist nach der ersten Wahl „völlig desillusioniert“; sie bleibt dennoch vier Jahre Fraktionsvorsitzende. „Ich merkte, dass ich nicht politikfähig bin, ich wollte keine faulen Kompromisse.“ Schließlich legt sie alle Ämter nieder, zum Ärger Bärbel Bohleys: „Jetzt schmeißt du uns hier alles vor die Füße.“ Was Sonja Rachow aus dieser Zeit berichtet, gehört zu den anschaulichsten Schilderungen der friedlichen Revolution.

2004 erklärt das Landgericht Rostock die Heimerziehung Sonjas für rechtsstaatswidrig und rehabilitiert sie. Sie lebt heute mit ihrem aus Braunschweig stammenden Mann in der Schweriner Altstadt.

Silke Kettelhake:

Sonja „negativ – dekadent“. Eine rebellische Jugend in der DDR. Osburg Verlag, Hamburg 2014. 296 Seiten, 17,99 Euro.

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