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Literatur: Embryonen weinen nicht

Die Frau, die vom Himmel fiel: Anne Zielke erzählt wahre Geschichten

Er müsse noch kurz mit dem Paar reden, sagt der Arzt. Ein weißer Punkt in der Herzgegend könne bedeuten, dass das Kind einen Herzfehler habe. Und das wiederum deute erfahrungsgemäß auf Trisomie 21 hin. „Sie verstehen doch“, sagt der Arzt, „Down-Syndrom“. Von solchen Situationen erzählt Anne Zielke ohne Sentimentalität, ohne Effekthascherei. Umsichtig hat sie recherchiert, und trotzdem wirkt ihr Wissensvorsprung, den sie den Protagonisten ihrer Reportagen voraus hat, nie aufdringlich. Zielke, 1972 in Dresden geboren und in Hildesheim aufgewachsen, hat nach dem Studium in München mehrere Preise für ihre Arbeit erhalten – auch diese preisgekrönten Texte enthält der vorliegende Band mit dem Titel „Die Frau, die vom Himmel fiel“. Und obwohl also ihr journalistisches Temperament, das sie heute vor allem als Kolumnistin unter Beweis stellt, unbestritten ist, offenbart sie es hier einmal mehr sehr einnehmend, die Grenzen zur Literatur schön verwischend. Für Anke und Roman, das Paar beim Arzt, wird der erste Verdacht zur Gewissheit; sie entscheiden sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch. „Sie ahnen gar nicht“, sagt der Arzt, „welche Last sie von den Ärzten nehmen.“ Denn diese wissen, dass ihre Nachricht fast immer einTodesurteil ist. Die Eltern von Anke und Roman aber reagieren abweisend, bis Anke im Namen ihrer Tochter einen Brief aufsetzt: „Hallo Oma und Opa. Klar, zum Anfang haben meine Eltern auch einen Schreck bekommen, doch mein Herzfehler ist zu reparieren (das sagt mein Bruder immer) und alles andere ist Pipikram.“

Diese anrührende Geschichte erzählt nicht nur vom Einbruch des Unerwarteten in den Alltag einer Familie. Sie zeigt, mit viel Sinn für die Dramaturgie einer dramatischen „Story“, Probleme gesellschaftlicher Ressentiments. Anne Zielke nimmt oft extreme soziale Konstellationen sehr genau in den Blick. Es ist der Blick der „rasenden Reporterin“, den Egon Erwin Kisch 1918 im „Literarischen Echo“ beschrieben hat: Der Reporter müsse die Pragmatik des Vorfalls, die Übergänge zu den Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten, dass die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal sei nun, dass diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der Durchlaufpunkte.

Zielke befolgt Kischs Anweisungen; sie spielt in ihrem Vorwort auch darauf an. Das alles sei wahr, wenn man darunter verstehe, dass sich die Tatsachen überprüfen lassen, so Zielke. Aber „in Wahrheit“ handelten diese Geschichten von ihr, von ihrer Sicht der Dinge, gerade weil sie beobachtet und Fakten gesammelt hat. Der Fortgang der Reportagen wird von Faktizität nicht etwa erschwert, sondern verlebendigt. Erst indem sich etwa der Schleier des Vorurteils mittels medizinischer Hintergründe lüftet, werden wir als Leser Teil der geschilderten Lebenswirklichkeit.

Dann weitet Zielke ihren Blick: Am Strand von Ipanema spürt sie dem Mythos des Mädchens nach, dem Tom Jobim sein bekanntes Bossa-nova-Lied nachempfand; oder sie besucht eine Frau, die als Einzige eine Flugzeugkatastrophe überlebt hat. Sicherlich sind es außerordentliche Vorfälle, die sie zu ihren Figuren geführt haben. Und doch handelt es sich um Menschen wie Du und Ich. Zielke zeigt hier wie in ihrem gefeierten Debüt, der Novelle „Arrai“, viel Gespür für Kuriositäten. Da ist die Familie, die von einer unheimlichen Krankheit heimgesucht wird: „Onkel Luciano starb ... an den Folgen seiner erschöpfenden, unerklärlichen, neun Monate andauernden Schlaflosigkeit“. Oder der Ketamin-Abhängige, der fühlt, dass „etwas Fremdes in seine Glieder kroch“: „Der Countdown für einen Flug; eines Tages war es ein Absturz.“

Ihre Schreibweisen lassen erkennen, dass Zielke nach einem Verfahren sucht, wie wir es aus der Lyrik Georg Trakls kennen, eine kontemplative Offenheit zur Transzendenz. Sie schmiedet mit ihren Reportagen bildhaft einzelne Begegnungen zu einem einzigen Eindruck zusammen. Verse aus Trakls Gedicht „Allerseelen“ sind mithin dem Text „Die Eiskinder“ vorangestellt. Wie Zielke dabei das Trakl-Wort vom „Weinen der Ungeborenen im Herbstwind“ zum Anlass nimmt, das Kinderglück eines amerikanischen Paares zu schildern, das auf tiefgefrorenen Embryonen beruht, zeugt von viel Talent. Am Ende gibt es nur ein Problem mit diesem Buch: Es ist viel zu kurz.

Anne Zielke: Die Frau, die vom Himmel fiel und andere wahre Geschichten. Verlag Blumenbar, München 2008. 112 S., 15,90 €.

Oliver Ruf

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