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Erzählungen: Die Unendlichkeit des Augenblicks

László Krasznahorkai unternimmt eine Expedition zu der Göttin Seiobo und anderen Rätseln.

Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai, der seit einiger Zeit in Berlin lebt, ist ein radikaler Beobachter und ebenso radikaler Schriftsteller, für unsere ungeduldige Gewohnheiten eine glatte Katastrophe. Aber das weiß die Krasznahorkai-Gemeinde, die ihm in die Mongolei, nach Peking und New York, in japanische Klöster und andere entlegene Gegenden folgt, in Erwartung literarischer Verführung, geistiger Erfrischung und meditativen Glücks. Ihn mit einem Reiseschriftsteller zu verwechseln, selbst einen von Cees Nootebooms Gnaden, wäre falsch. Beim 56-jährigen Autor, dessen Texte auch Grundlage für die erbarmungslosen Filme seines Freundes Béla Tarr sind, ist der Lohn – wir wollen es nicht verschweigen – für hemmungslos niedergeschriebene Lesestrapazen und überbordendes Fachwissen, die extravagante Expedition. Extravagant?

Was er in seinem neuen Buch in Palästen, Tempeln, Theatergarderoben, in Kyoto, Granada, auf der Akropolis, im Louvre und anderswo sucht, hat nichts mit Globaltourismus zu tun. Obwohl jede der 17 Erzählungen an einem anderen Ort, einige in vergangenen Jahrhunderten spielen, ist nie das Allgemeine, das Käufliche, das Abfilmbare sein Thema. Der unerbittliche Beobachter, der seinen einsamen, zur Melancholie neigenden Reisenden, mit laut knallenden Ledersohlen durch die unterschiedlichen Kulturräume schickt, ist auf der Suche nach dem Ritual. Nach Momenten der Sprachlosigkeit, ausgelöst vom Flackern hinter den Augenlidern, Seancen individuellen Erkennens.

Die Suche umfasst die Kunst, das Handwerk und die Religionen. Vielleicht ist sein Vorgehen am einfachsten mit dem alten Monsieur Chaivagne zu erklären, der seit drei Jahrzehnten die „Venus von Milo“ im Louvre bewacht und von der armlosen Skulptur so in Bann gezogen ist, dass er, gefragt, ob sein Job nicht eigentlich todlangweilig sei, antwortet, dass er zwar acht Stunden aufpassen muss, aber zugleich acht Stunden in der „Innenwelt“ der Venus von Milo sein darf. Was für ein Aufenthaltsort!

Der Kern der oft weit ausholenden Erzählungen lässt sich mit drei großen Fragen zusammenfassen: Was bewegt den Künstler, was den Betrachter und was den Restaurator? Die Figur des Malers, Bildhauers, Musikers und Architekten findet der Autor in Europa, den Konservator und die Meisterschaft zum Rituellen überhaupt in Japan. Der schönste Text über das Betrachten beschäftigt sich mit der venezianischen Scuola Grande di San Rocco. In den verwirrend dunklen Räumen gerät Krasznahorkais Reisender, der sich von einem Mann im rosa Hemd verfolgt fühlt, angesichts einer Christusdarstellung in wahre Trance. Doch ist Krasznahorkai kein laienhafter Schwärmer, der in vergangene Bildwelten abdriftet, er ist immer auch auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion und verweist (manchmal anstrengend ausführlich) auf den Rattenschwanz der Forschung.

So stürzt er sich mit Hilfe eines in italienischer Sprache verfassten Kreuzworträtsels auf die Irrfahrt nach einem Künstlernamen, kanzelt mit beiläufiger Gelehrtheit die Renaissanceforschung ab, schreibt die Bemalung einer Hochzeitstruhe Filippino Lippi zu, dem zarten aus der Verbindung von Mönch und Nonne entstandenen Knaben und erklärt mit Hingabe die mörderischen Szenen aus dem Leben der schönen und unglücklichen Esther. Krasznahorkai nutzt die Freiheit der Interpretation, die der Schriftsteller, nicht aber der Wissenschaftler zu Verfügung hat, und verknüpft das Schicksal von Motiv und Künstler.

Dass er sich mitten in die Bellini-Tizian-Giorgione-Forschung hineindrängt, ist die eine Sache, wie er das tut, die andere. Denn László Krasznahorkai ist der Meister des unendlichen Satzes. Als fürchte er die Unterbrechung, hält er das Schwungrad der Sprache auf der Höhe, nur durch Kommata sanft reguliert, und erzeugt eine Melodie, die den Texten ihren unwiderstehlichen Sog verleiht. Vier Punkte auf 15 Seiten, da entsteht ein gewaltiger Drive.

Vielleicht weil mir die italienische Renaissance vertrauter, weil der kunsthistorische Eifer ein wenig übereifrig wirkt, sind für mich die Texte, die sich mit japanischen Riten auseinandersetzen, die besten des Bandes. Natürlich fasziniert die Fremdheit und Krasznahorkais stupende Kenntnis. Aber es ist noch etwas anderes, das diese Faszination erklärt. In den Erzählungen „Konservierung eines Buddhas“ und „Der Neubau des Ise-Schreins“ ist das Reden, Schweigen, Missverstehen, sind die Erregung über das perfekte Gelingen der Zeremonien das Ereignis.

Die Reise einer hohlen, aus einer besonderen Zypressenart gefertigten Buddhafigur aus einem entlegenen Kloster über Landstrassen und Schnellstrassen zur Restaurierung in das Nationalmuseum von Kyoto ist, so wie Krasznahorkai das darstellt, in der ganzen kulturellen Fremdheit durchdringend geheimnisvoll. Die Genauigkeit der Blickführung, mit der die Reise der kostbaren Buddhafigur beschrieben wird, die Panik des Chauffeurs, seiner Fracht könne etwas zustoßen, bis zum Fest bei der Rückkehr, mit Zeremonienmeister, Gong, Lichtschneise, Gesang, Räucherstäbchen, die ganze feierliche „Andacht in der Luft“, schließt alle „Gleichgültigkeit“ aus. Wie groß die kulturellen Missverständnisse sind, zeigt Krasznahorkai in seinem Text über den „Neubau des Ise-Schreins“ .

Hochmütig behandelt der für den Neubau zuständige Sachbearbeiter seine Besucher, einen europäischen Architekturschüler und einen japanischen Textildesigner. Er fragt sich, wie kommt es denen „überhaupt in den Sinn“, den „heiligsten Ort des Landes“ betreten zu wollen? Doch die Gäste ignorieren seinen Missmut, und als er sie am Ende eines langen Tages auf einen unwegsamen Hügel zerrt, unter ihnen die zitternden Lichter des nächtlichen Kyoto, da denkt der Gastgeber verächtlich, dass der Weg vergebens war, denn „ein Auge aus dem Westen“ könnte bestimmt nicht mehr erkennen als das „Glühwürmchengeflimmer“ einer nächtlichen Stadt. Lapidarer sind kulturelle Distanzen nicht zu fassen.

Und wer ist Seiobo, die dem Buch den Titel gab? Eine Göttin, die überall und nirgendwo ist, die einen Garten besitzt, in dem die Pfirsichbäume nur alle 3000 Jahre blühen, deren Gewand und Maske der No-Meister Inoue Kazuyuki überzieht, der oft und mit genau den gleichen Worten die Geschichte seiner Kindheit erzählt. Die Geschichte vom Vater, der mit Atemschutzmasken handelte, die plötzlich niemand mehr kaufen wollte, von der einsetzenden Armut und vom weißen Hund, der genauso plötzlich auftaucht, sich nicht verscheuchen lässt und sogar Reis isst, den kein Hund sonst anrührt. Und von der Nachfrage nach Atemschutzmasken, die, kaum ist der Hund im Haus, sprunghaft anzieht.

Der mittlerweile als No-Darsteller berühmte Mann muss, um der Verehrung des Publikums zu entgehen, auf das WC flüchten, denn er braucht einen einsamen Ort der Sammlung, bevor er sich Gewand und Maske der Göttin Seiobo anlegen und vielleicht an den weißen Hund denken kann, ohne den er möglicherweise nie da angekommen wäre, wo ihm jetzt „Seiobo tatsächlich erscheinen kann“.

„Seiobo auf Erden“, vorzüglich übersetzt von Heike Flemming, ist László Krasznahorkais Expedition in das Erstaunen, hervorgerufen durch seinen unerbittlichen Blick, der streng der Devise folgt: Ich sehe, was ich erkenne. Das Erkennen ist mit exaktem Wissen hinterlegt. Das Buch erzählt keine Geschichten vom hässlichen Heute und Jetzt, von lässlichen und weniger lässlichen Sünden, keine von Ich und Du. Die Erzählungen sind ganz den Künsten verpflichtet und der Zeit, die keine Panik auslöst, weil ihr Vergehen vor der Ewigkeit gegenstandlos ist. Wenn wieder mal ein Sonntag wie ein „Ungeheuer“ im Nacken sitzt, die Flucht hinter Seiobos Maske vertreibt es, wenigstens eine geduldige Weile.

László Krasznahorkai: Seiobo auf Erden. Erzählungen. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 461 Seiten. 22,95 €.

Verena Auffermann

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