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Ethnologie: Auf verschlungenen Pfaden

Werner Petermann erzählt die Geschichten der Ethnologie

Werner Petermann erzählt die Geschichten der Ethnologie

Die Völkerkunde ist eine nicht unkomplizierte Wissenschaft. Historisch ist der Aufstieg der Ethnologie zur wissenschaftlichen Disziplin ein Produkt des europäischen Kolonialismus. Die weltweite koloniale Expansion im 19. Jahrhundert schuf die Grundlage für eine umfangreiche Erforschung fremder – im zeitgenösischen Diskurs – „primitiver Naturvölker“. Die historisch-ideologische Komplizenschaft der Disziplin mit der gewaltsamen europäischen Expansion jedoch diskredietiert nicht den zugrunde liegenden Erkenntnisdrang als solchen. Ethnologisches Wissen war und ist ebenso immer dann gefragt, wenn es um die Lösung von ethnischen Konflikten geht. Der Wunsch, fremde Kulturen zu verstehen, birgt immer auch das Potential, neue Perspektiven auf das Eigene zu eröffnen, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen – eine Grundvoraussetzung interkulturellen Austauschs und Zusammenlebens.

Frühe Ethnographen

Diesen ambivalenten Charakter seiner Disziplin behält der Ethnologe Werner Petermann stets im Blick, wenn er die historischen Entwicklungslinien völkerkundlicher Forschung bis ins antike Griechenland zurückverfolgt und bereits in den Erdbeschreibungen des Hekataios aus dem 6. Jahrhundert vor Christus ein ausgeprägtes Interesse an fremden Menschen und ihren Lebensweisen findet. Der weit gefaßte Begriff der Ethnologie, den Petermann seiner umfangreichen, beeindruckend kundigen Studie zugrunde legt, beschränkt die völkerkundliche Forschung bewußt nicht auf ihre relativ kurze Karriere als eigenständige akademische Disziplin, sondern öffnet den Blick auf 2500 Jahre abendländischer Versuche und Bemühungen, fremde Kulturen wahrzunehmen und zu beschreiben.

Petermanns Geschichte der Ethnologie ist dabei – und darin liegt ihr besonderer Reiz – keine lineare Fortschrittserzählung, keine systematische Theoriegeschichte des Fachs, sondern vielmehr eine reiche Sammlung von Geschichten und Episoden der abendländischen Begegnung mit dem Fremden. Kein gerader Weg führt durch diese Wissenschaft- und Faszinationsgeschichte der ethnographischen Diskurse von Reisenden, Missionaren, Forschern und Philosophen. Doch wer vor Umwegen und Verzweigungen nicht zurückschreckt, der wird auf Petermanns faszinierender Reise durch die europäische Geistesgeschichte eine Menge über die Imaginationen des kulturell Anderen erfahren, zentrale Stationen ethnologischer Forschung beschreiten und dabei auch auf eher am Rande Liegendes, Anekdotenhaftes, aber nicht minder Spannendes stoßen.

Von Herodots Historien, in denen der griechische Geschichtsschreiber ausführlich über die Sitten und Bräuche, das Erscheinungsbild und die Charaktereigenschaften der nicht-griechischen Völker berichtet, über die Aufzählung tributpflichtiger Stämme und Königtümer im Reisebericht Marco Polos, die spanischen Beschreibungen der Neuen Welt und die philosophischen Theorien des Fremden in der Aufklärung reicht der erste Teil dieses enzyklopädischen Panoramas europäischer Fremdebilder. Petermann verfolgt die ethnographischen Motive in den Reisebeschreibungen der großen Weltumsegler ebenso wie die philosophische Diskussionen um Volk und Kultur bei Rousseau, Herder und Kant.

Schreibweisen des Fremden

Im 19. Jahrhundert setzt eine zunehmende akademische Professionalisierung der Völkerkunde ein. Den wissenschaftlichen Idealen von Empirismus und Positivismus verpflichtet, entstehen neue Theorien zu Differenz und historischer Entwicklung der verschiedenen Völker. Die Datensammlung auf wissenschaftlichen Expeditionen und Forschungsreisen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Zuhause sammelt man das Wissen über andere Welten und Kulturen, entwirft komplexe Systeme der Ordnung und Kategorisierung des Fremden. Dabei wird die Angst vor dem „Aussterben der primitiven Naturvölker“ in der 2. Hälfte des Jahrhunderts immer mehr zur zentralen Motivation ethnologischer Forschung. Sie impliziert allerdings weniger eine Kritik an der europäischen Expansion in Übersee, der gewaltsamen Kolonisierung der Erde, als vielmehr die Sorge des Wissenschaftlers um die empirischen Grundlagen seiner Disziplin. „Der Verlust der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen für das Studium gesichert sind –, solcher Verlust (…) könnte die Möglichkeit selbst einer Menschenwissenschaft in Frage stellen“, mahnte der Gründungsvater der deutschen Ethnologie, Adolf Bastian, 1881 seine Kollegen.

Mit kritischem, dabei stets auf die größeren historischen Diskurse und Denkfiguren gerichteten Blick erzählt Petermann die Entstehungsbedingungen der neuen Universitätsdisziplin. Ausführlich wird die internationale Schulenbildung dargestellt, wobei das weite Spektrum der Ansätze und Interessen in Ethnologie und Anthropologie zur Geltung kommt. Die Wissenschaftsgeschichte der theoretischen Positionen von Evolutionismus, Funktionalismus und Kulturanthropologie setzt sich in der Darstellung Petermanns zusammen aus den Porträts ihrer wichtigsten Protagonisten. Auch hier zeigt der Text seine Liebe zum Detail, zum Anekdotenhaften. Anstelle der großen Erzählung vom Aufstieg der Disziplin tritt ein Kaleidoskop der mannigfaltigen Strömungen und Diskussionen, das auch den Randgängern der Ethnologie, den ethnographisch interessierten Literaten, Photographen und Künstlern wie Victor Segalen, Roger Caillois oder Antonin Artaud, ein eigenes Kapitel widmet.

Damit folgt Petermanns Geschichte der Ethnologie selbst nicht nur in ihrer eigenen Darstellungsweise, sondern auch im thematischen Fokus auf die vielfältigen Formen ethnographischen Schreibens jenem im letzten Kapitel des Bandes behandelten Paradigma postmoderner ethnologischer Theoriebildung, das die Frage der Repräsentation des Fremden, des Schreibens von Kultur selbst ins Zentrum der Reflexion stellt. Werner Petermann hat ein in dieser Form bisher beispielloses Standardwerk geschrieben, das nicht nur Fachwissenschaftlern und Studenten einen fundierten Überblick zur Geschichte ethnologischen Wissens bietet, sondern auch dem interessierten Laien zur spannenden Lektüre werden kann.

Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, 2004. 1095 S., geb. 59, 90 Euro.

Sven Werkmeister

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