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Die Chancen fest im Blick. Der Bundestagsausschuss „Digitale Agenda“ sieht das Internet vor allem als Transportmittel für die Zukunft.

© picture alliance / dpa

Evgeny Morozovs Netz-Kritik: Demokratie aus dem 3-D-Drucker

Alles nur noch ein Game: Mit dem Internetzentrismus geht ein Verlust an analytischer Klarheit und Präzision einher, behauptet der Netz-Experte Evgeny Morozow in seinem neuen Buch

Ein junger Mann, gerade dreißig Jahre alt, sitzt in einer Waldhütte in Weißrussland und zerfetzt das Internet, in Gedanken jedenfalls. Beschreibung und Begründung seiner Arbeit umfassen 590 Seiten reinen Text und gehören zum Spannendsten, was in den vergangenen Jahren an Netz-Kritik geschrieben worden ist. Das hat drei Gründe: Evgeny Morozov sieht das Netz nicht als positive Glaubensangelegenheit. Zweitens hat er genug über die vom Internet angeblich beförderten Revolutionen gesellschaftlicher Art gelesen, um diese mit Abstand und Skepsis zu beurteilen. Drittens verführt er seine Leser zu einer differenzierenden Sicht auf „das Internet“: Keine Daumen-runter-Fundamentalkritik an dieser wichtigsten technischen und kulturellen Entwicklung der vergangenen fünfzehn Jahre; aber auch keine Daumen-hoch-Netz-Apologetik, die jeden scheinbaren Fortschritt auf „das Internet“ zurückführt.

Morozov ist kein Waldschrat, der mit dem Netz hadert, weil es mit seinem stets verfügbaren richtigen und falschen Wissen einen jungen Gelehrten um einen schönen Posten bei einem lexikalischen Verlag gebracht hätte. Er hat in Georgetown und Stanford studiert, ist derzeit laut Verlag an der Harvard University eingeschrieben, wo er in Wissenschaftsgeschichte promovieren will. Viele Zeitungsleser kennen ihn als bestens vernetzten Autor. In die Waldhütte seiner Eltern hatte er sich zum Schreiben zurückgezogen. Es sind dann auch ein paar Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte gewesen, die Morozovs Netz-Kritik begründen. Und wahrscheinlich ganz einfach Skepsis, die manche Leute befällt, wenn sie den Eindruck haben, dass größere Teile ganzer Bevölkerungen jede Skepsis gegenüber dem aufgegeben haben, was sie für technischen und gesellschaftlichen Fortschritt halten.

„Das Internet“, von Morozov stets in Anführungszeichen gesetzt, weil es als Begriff so unscharf ist, hat längst eine begriffliche Wucht sondergleichen. „Wenn man bedenkt, wie verschwommen die Vorstellung von ,dem Internet’ ist, erscheinen abgeleitete Konzepte wie ,Internetfreiheit’ so allumfassend und inhaltsleer, dass sie ohne Weiteres die Regelungen für 3-D-Drucker, die komplizierten Fragen der Netzneutralität und die Rechte oppositioneller Blogger in Aserbeidschan abdecken können“, spottet Morozov: Das Netz – eine Kraft eigener Art, ein Medium, ein Ort, um mit Daten, Werbung und Algorithmen sehr viel Geld zu verdienen, ein Freiheitsermöglicher und Überwachungsinstrument.

Und eine Denkfigur: „Internetzentrismus“ nennt Morozov dieses Denken, diese Haltung, die „die Art und Weise, wie wir über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Regulierung von Technik nachdenken, massiv beeinträchtigt“. Der Internetzentrismus mit seiner quasireligiösen Energie habe „die Glaubensbewegung der Geeks wiederbelebt (und manchmal erst erschaffen), die entscheidenden Widerstand gegen staatliche Bemühungen zur Regulierung digitaler Technik leisteten. Aber dem Gewinn an aktivistischer Wirkungskraft steht ein Verlust an analytischer Klarheit und Präzision gegenüber“.

Netzfreiheit und Datensammelwahn, Anarchie, Demokratie, Ahnungslosigkeit beim Wischen auf dem Smartphone: Das Netz macht alles möglich. Morozov ist schlicht dagegen, das alles einfach geschehen zu lassen – als sei Entwicklung nur in einer Richtung möglich. Sein Buch ist so dick (und trotzdem gut zu lesen), weil es so viele mit dem Netz verbundene Eigenschaften dieses Netzes gibt, die eine kritischen Betrachtung verdienen.

Zum Beispiel die Transparenz, angeblich eine vom Netz erst voll und ganz möglich gemachte Sache. Morozov beschreibt die Website eines „Computervirtuosen“, die in Kalifornien als moralischer Pranger funktioniert. Angeprangert werden Bürger, die eine Kampagne gegen die Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen mit mehr als hundert Dollar unterstützten. Schon immer, so Morozov, seien die Daten solcher Spender öffentliche zugänglich gewesen. Im Vor-Internetzeitalter hätten sie indes im Archiv einer Behörde gelagert. Heute seien Namen und Adressen dieser Bürger mit ein paar Klicks herauszufinden.

Morozov geht es hier nicht um das Für und Wider von Homo-Ehen. Er argumentiert wider den elektronischen Pranger. Websites wie die erwähnte könnten dazu dienen, „praktisch jedes politische Anliegen zu unterdrücken, ganz egal, wo es im Rechts-links-Spektrum angesiedelt ist“. Transparenz, will er sagen, ist keine Qualität eigener Art in der Politik, schon gar nicht deren höchstes Gebot.

Der feste, massenhaft gelebte Glauben an die segensreiche Wirkung des Netzes hat noch ein paar andere Nebenwirkungen, die Morozov für bedenklich hält. Um nur zwei zu nennen: Er beschreibt den Trend, bestimmte Verhaltensweisen im Netz zu „gamifizieren“, sprich: wie in einem Spiel symbolisch zu belohnen, und wäre „nicht überrascht“, wenn dieses Prinzip auf die Politik übertragen würde. Doch ein System aus spielerischen Anreizen würde das Zusammenleben in seinen Grundsätzen verändern: „Während Sie sich früher bemüht haben, die Verkehrsregeln einzuhalten, weil Ihnen Ihre eigene Sicherheit und die der anderen Verkehrsteilnehmer am Herzen lag, und sie den Müll getrennt haben, weil Ihnen die Umwelt wichtig war, machen Sie es jetzt vielleicht, weil es mit Spaß verbunden ist.“ Warum nicht, solange das Verhalten okay ist? „Manchmal wollen wir, dass die Bürger aus dem richtigen Grund das Richtige tun und nicht nur deshalb, weil es mehr Spaß macht, als Angry Birds zu spielen.“ Weil Werte zur Demokratie gehören.

Das ist eine der großen Stärken dieses Buchs: Es zeigt, an wie vielen Stellen und auf wie vielen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens „das Internet“ wirkt – und welchen Gesetzen diese Wirkung folgt. Werte zum Beispiel begründeten mal bestimmte Verhaltensweisen; Belohnungen, Anreize, gelten heute als starke Motive. Wunderbar, wie Morozov eine der Chefideologinnen der Gamifizierung vorführt, die amerikanische Spieldesignerin Jane McGonigal (Kronzeugin des „Spiegel“-Titels von Mitte Januar mit der zweifelhaften These „Spielen macht klug“, die womöglich viele Eltern in dem Bemühen resignieren ließ, ihren dauerdaddelnden Kindern Grenzen zu setzen). Spiele können dazu beitragen, zitiert Morozov Jane McGonigal, dass die Menschen die „dringlichsten Ziele der Welt erreichen: Krebs heilen, den Klimawandel stoppen, Frieden schaffen und die Armut beseitigen“. Dazu Morozov: „Wie die meisten Geeks ist McGonigal ein Opfer der makroskopischen Sicht; sie hat keinen Respekt vor lokalen Gemeinschaften, sie denkt lieber in den Größenordungen von Planeten, Galaxien und Jahrhunderten.“

Es sind die Geeks, die grenzenlos Netzgläubigen, die bei einer anderen Sache mitmachen, die Morozov für gesellschaftspolitisch hochproblematisch hält – dem „Selftracking“, dem Sammeln aller möglicher persönlicher Daten mit Hilfe von immer mehr Sensoren. Und was, fragt Morozov, wenn die Selbstüberwachung mal als individuelle Großtat gilt, wenn sie zum Trend wird? Wie verändert sich eine Gesellschaft – oder auf Deutsch: eine Solidargemeinschaft –, wenn die Veröffentlichung eigener Gesundheitsdaten zur moralischen Norm wird?

Evgeny Morozov.
Evgeny Morozov.

© privat

Morozov will skeptisches Denken über das Netz – damit wäre schon viel gewonnen. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han lädt in seinem Essay mit dem Titel „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ ebenfalls dazu ein, dem Zweifel am scheinbaren Fortschritt Raum zu geben: „Das Narrative verliert massiv an Bedeutung. Heute wird alles zählbar gemacht, um es in die Sprache der Leistung und Effizienz umwandeln zu können. So hört alles, was nicht zählbar ist, auf, zu sein.“

Evgeny Morozov: Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen. Blessing, München 2013. 655 Seiten, 24,99 Euro.

Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Matthes und Seitz, Berlin 2013. 107 Seiten, 12,80 Euro.

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