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Fortschrittsglauben: Oder doch zyklisch?

Bedrich Loewenstein über den Fortschrittsglauben.

Im Allgemeinen ist der moderne Mensch gewohnt, linear und progressiv zu denken. Trotz aller Rückschläge auf dem Weg von Wachstum und Fortschritt, schien es doch immer aufwärtszugehen. Zugleich sind angesichts von Finanzkrise, Klimakatastrophe und zur Neige gehender Rohstoffe apokalyptische Vorstellungen allgegenwärtig. Von daher lohnt sich ein breit angelegter Rückblick auf die Geschichte des Fortschrittsglaubens. Einen solchen Versuch unternimmt der Historiker Bedrich Loewenstein, dessen essayistisches Buch von stupender Gelehrsamkeit zeugt.

Darin legt der Autor dar, dass dem Fortschritt immer etwas Ambivalentes anhaftet. Deutlich wird dies beim dramatischen Durchbruch des Fortschrittglaubens während der Französischen Revolution. Loewenstein erinnert daran, dass Publizisten wie Jaques-Pierre Brissot die pessimistische Gegenwartsdiagnose Rousseaus in ein pathetisches Freiheitsmythos umgemünzt haben, in dessen Licht alle tatsächlichen oder suggerierten Probleme der Menschheit als politisch bedingt und lösbar betrachtet wurden.

Die jakobinische Inspiration der Bolschewiki, ein gutes Jahrhundert danach, verstand sich als Abrechnung mit politischer Willkür der Aristokratie, vor allem aber mit der Bourgeoisie. Eine „Diktatur von Proletariat und Bauernschaft“ als Instrument des Krieges gegen den gesamten Plunder der alten Ordnung, ohne den Ballast eines demokratischen Staates, sollte die ohnehin unterentwickelte russische Mittelklasse ausschalten, noch bevor sie entsprechend der marxistischen Theorie zur eigenen Herrschaft gekommen wäre. Wie Rousseau glaubte Lenin an den allgemeinen Volkswillen, ohne sich allzu sehr um den entsprechenden Willen der Mehrheit zu kümmern. Deshalb sollte seine bolschewistische Partei auch keine demokratische Plattform sein, sondern eine auf Machterwerb eingeschworene, disziplinierte Gemeinschaft.

Die Anwendung noch der härtesten Mittel wird durch den illusionären Anspruch gerechtfertigt, dem historischen Fortschritt den Weg zu bahnen.

Der Glaube an utopische Gesamtlösungen war auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keineswegs verschwunden und die bis in die frühen 1970er Jahre ungebrochene Modernisierungseuphorie wurde erst durch die Club-of-Rome-Studie über die Grenzen des Wachstums nachdrücklich infrage gestellt. Nicht nur wegen des Raubbaus der Ressourcen wurde auf die Ambivalenzen der Moderne hingewiesen. Beispielsweise von Zygmunt Baumann, der in Anlehnung an Horkheimer und Huxley eine deprimierende Deutung der Moderne als obsessiven, wenngleich vergeblichen Kampf um Ordnung gegen alles Unangepasste liefert. Zwar hält Loewenstein das für überzogen, gelangt aber zu dem Resümee, dass die große Erzählung von der linearen Aufwärtsbewegung der Menschheit als Leitidee ausgedient habe. Ist also die antike Idee einer zyklischen Geschichtszeit angemessener als das lineare europäische Fortschrittsmodell?

Loewenstein, der Ende der 1960er Jahre in der Tschechoslowakei Berufsverbot bekam und 1979 einem Ruf an die Freie Universität folgte, vertritt im Blick auf die Fortschrittsidee trotzdem keinen radikalen Skeptizismus. Vielmehr warnt er vor einer allzu resignativen Haltung, welche angesichts der drängenden Probleme der Gegenwart nur Passivität fördere. Dagegen setzt er eine Politik der kleinen Schritte. Zugleich betont er, auf den konservativen Kritiker der Französischen Revolution Edmund Burke zurückgreifend, dass echter Fortschritt nicht ohne Elemente der Bewahrung möglich ist. Dabei dient dem früheren Dissidenten das europäische Erfolgsmodell als Vorbild, das sich der Erneuerung verschütteter Traditionen ebenso verpflichtet sehe wie der Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft und der behutsamen Modernisierung der politischen Strukturen.

Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee. V&R Unipress, Göttingen 2009. 463 Seiten, 57,90 Euro.

Boris Peter

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