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Georg-Büchner-Preis: Sichtung und Wahrheit

Walter Kappacher erhält in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie.

Ihre Entdeckerfunktion ist immer noch der schönste Erfolg großer Literaturpreise. Als der 71-jährige Salzburger Schriftsteller Walter Kappacher im Mai den Büchner-Preis zugesprochen bekam, lautete so manche Reaktion: Walter wer? Am Samstag jedoch konnte im vollbesetzten Darmstädter Staatstheater ein Autor die wichtigste deutsche Literaturauszeichnung entgegennehmen, dessen Bücher auf einmal in den Buchhandlungen ausliegen – darunter mit „Der Fliegenpalast“ zuletzt eine traumwandlerisch schöne Künstlernovelle, die anhand einer suggestiv nach-imaginierten Schaffenskrise im Leben Hugo von Hofmannsthals von der Ohnmacht des schöpferischen Menschen gegenüber seinem Genius handelt. Wenige Monate sind vergangen, und der Geheimtipp hat sich in den Verfasser der „weit und breit bestrezensierten Werke der deutschsprachigen Literatur“ verwandelt, wie Laudator Paul Ingendaay mit Blick auf den „Fliegenpalast“ und Kappachers unaufdringlich eindringlichen Aussteigerroman „Selina oder das andere Leben“ (2005) sagte.

Der Verleihung des Büchner-Preises vorangestellt sind traditionell der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik, den Harald Hartung, und der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, den Julia Voss erhielt. Der altgediente Dichter, Kritiker, Essayist und Herausgeber zahlreicher Lyrikanthologien wie „Luftfracht“ (1991) und die junge Kunst- und Wissenschaftshistorikerin bildeten den Auftakt eines Nachmittags, der unter dem Motto der Arbeit am Palimpsest zu stehen schien. Hartung führte seine lyrisch-kritische Doppeltätigkeit auf die kindliche Neigung zurück, „verrätselte Botschaften mit Milch auf Papier“ zu schreiben, das Blatt auf eine heiße Ofenplatte zu legen und „die bräunlichen Lineaturen“ zu entziffern. Und Julia Voss, die die Bedeutung der Illustrationen in Darwins Büchern für die Entwicklung seiner Theorie ebenso entdeckt hat wie die Darwinschen Spuren in Michael Endes „ Jim Knopf“, warb eindringlich für die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften: Während die Gelder für Dinge wie die neurowissenschaftliche Erforschung der Willensfreiheit flössen, seien seit 1996 „17 von etwa 30 Professuren für Wissenschaftsgeschichte gestrichen worden“.

Dass der Österreicher Kappacher sich am Rednerpult in einen donnernden Orator verwandeln würde, war nicht zu erwarten. So gab er denn in zurückhaltendem Duktus die Umrisse einer Salzburger Nachkriegsjugend zu Protokoll, einer ärmlichen Existenz wie der Millionen anderer; nur dass sie in seinem Fall nicht zu einer tätigen Wiederaufbaumentalität führte, sondern zum Sichentziehen auf Raten. An der Mutter, die schon mit zwölf Jahren fast alleine ein großes Bauerngut bewirtschaften musste, bewunderte er zeitlebens die schöne Handschrift. Vom unerreichbaren Vater, einem ehemaligen Volksbühnenschauspieler, der sich nach dem Krieg dem Alkohol ergab, hatte er kaum mehr als wöchentliche Kriminalschmöker. Gleichsam in Häutungen wurde Kappacher Motorradmechaniker und Schauspielschüler, der lieber las und sich mit Dostojewskis Mörder Raskolnikow oder Büchners Leonce identifizierte, als seinen Sprechübungen nachzugehen, schließlich Reisekaufmann. Bezeichnend für die Selbstverortung eines Autors, dessen biografische Auskünfte stets rasch zu prägenden Lektüren führten: Kafkas „Prozess“ bedeutete ihm vor allem die Entdeckung, dass Literatur auch im Büro spielen kann, mit einem Angestellten wie ihm als Helden, mit Direktoren und klingelnden Telefonen.

So war seine Rede mit den Großen von Büchner bis Beckett durchsetzt. Büchners Wahnsinnserzählung „Lenz“ mit ihren wie ein Wetterstrahl zuckenden Naturschilderungen, in denen Innenwelt und Außenwelt kaum zu unterscheiden sind, bildete dabei den roten Faden. Deutete dieser etwa darauf, dass man in Kappachers vielfach gerühmten Naturbeschreibungen auf den verborgenen Untergrund achten sollte? Am leidenschaftlichsten wurde er, als er davon sprach, wie Thomas Mann notierte, Gerhart Hauptmann habe einmal gesagt, Hofmannsthals Romanfragment „Andreas“ sei von Büchners „Lenz“ beeinflusst – nur um hinzuzufügen, ob Hauptmann sich denn nicht bewusst gewesen sei, dass dies ebenso für dessen eigene Erzählung „Bahnwärter Thiel“ gelte.

Es war folglich die Poetik eines ganz handwerklich verstandenen Meister-Schüler-Verhältnisses, die Kappacher vorführte. Literatur wird aus Literatur gemacht. Stets scheint unter dem Text immer ein anderer durch, und die Abgründe, die Rezensenten so gerne unter sanften poetischen Oberflächen vermuten, sind vielleicht doch eher: andere Texte. Literatur oder Leben also? Ob Kappachers Romane sich dem Leser eher als Projektionsfläche für narzisstische Spiegelungen anbieten oder ihn zu wirklichen Tiefenschichten führen, wäre vielleicht, das ließ seine Darmstädter Rede ahnen, zu psychologisch gedacht. Autoren wie Kappacher sind vor allem selbst Leser, und die Schichten, die sie zu entdecken erlauben, nicht zuletzt: sedimentierte Literatur.

Michael Adrian

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