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Sonnenuntergang in Amerika. Doch Packers Protagonisten stehen immer wieder auf.

© dpa

George Packer über die amerikanische Krise: Der müde Traum

"Die Abwicklung": Der Essayist und "New-Yorker"-Redakteur George Packer zeichnet in seinem eindrucksvollen Buch ein düsteres Bild des modernen Amerikas.

Die zunächst seltsamste, deplatzierteste, aber schließlich den Intentionen und der Logik dieses Buches am besten entsprechende Figur dürfte der Schriftsteller Raymond Carver sein. Als Künstler und „Handwerker des Schreibens“ ist Carver weder ein Repräsentant des alten noch des neuen Amerikas, zumal er 1988 verstorben ist – und doch hat er mit seinen Kurzgeschichten über die Verlierer der amerikanischen Gesellschaft genau die mitunter deprimierenden Geschichten geschrieben, die auch George Packer in seinem Buch „Die Abwicklung“ nicht müde wird zu erzählen. Auch sein kurzes Leben passt gut, vor allem als unverhoffte Erfolgsgeschichte, von denen es bei Packer ebenfalls einige gibt. Raymond Carver entkam dem White Trash und wurde zu einem Helden der Literatur, einem Klassiker gar; er schaffte es, eine Sucht zu überwinden, den Alkoholismus, wurde dann aber viel zu früh von den Folgen einer anderen (Zigaretten) eingeholt und zu Tode gerafft. Sein Glück, „kurz vor der Exekution begnadigt“ worden zu sein, wie es Packer einmal beschreibt, währte da gerade zehn Jahre.

Nicht zuletzt sieht sich George Packer, wenngleich er vor allem ein hervorragender Essayist und als Mitglied der „New Yorker“-Redaktion Journalist ist, mit diesem Buch, einer „inneren Geschichte des neuen Amerikas“ (so der Untertitel), in einer eher literarischen Tradition stehen, wie er im Quellenverzeichnis am Ende verdeutlicht. Dort weist er darauf hin, dass sein im vergangenen Jahr in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnetes Buch zwar ein Sachbuch sei, es aber in der Tradition von John Dos Passos’ USA-Trilogie stehe, „die in den 1930er Jahren erschien und einer längst überfälligen Wiederentdeckung harrt“. Dos Passos hatte mit seinen drei Büchern „Der 42. Breitengrad“, „1919“ und „Hochfinanz“ versucht, und das durchaus erfolgreich und spektakulär, der Komplexität der amerikanischen Gegenwart der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, nämlich kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, gerecht zu werden, indem er die Biografien von zwölf Amerikanern erzählte und dabei unterschiedlichste Prosaformen anwendete. Unter anderem montierte er einiges an dokumentarischem Material in seine drei Romane.

Bei George Packer ist zwar alles ausschließlich dokumentarisch. Tatsächlich aber schildert er die Lebensgeschichten seiner Protagonisten mitunter wie in einem Roman. „2009 war das letzte Jahr, in dem Peter Thiel am World Economic Forum teilnahm“, heißt es gegen Ende des Werdegangs des PayPal-Erfinders und frühen Facebook-Investors Peter Thiel. Der Abschnitt über die schwarze Sozialarbeiterin Tammy Thomas beginnt so: „An einem Frühlingstag des Jahres 2012 ließ Tammy ihre Handtasche im Pontiac liegen und trat an die Haustür eines gemauerten Hauses an der Tod Lane.“ Peter Thiel und Tammy Thomas sind zwei ideale Antipoden, mittels derer Leben und Wirken Packer die „Abwicklung“ der USA in den vergangenen vierzig Jahren beschreibt und anhand deren Beschreibung auch analysiert. Diese Abwicklung bezieht sich nicht nur auf überkommene Industrien und Institutionen, sondern auch auf Werte und Normen, Manieren und Moral. Kurzum: Es geht hier um den völligen Umbau der amerikanischen Gesellschaft, von der Republik eines Franklin D. Roosevelt der dreißiger Jahre, in der Ausgleich, Befriedung und Gerechtigkeit an vorderster Stelle standen, hin zu einem Land, das seit zwei, drei Jahrzehnten zunehmend dominiert wird von einer Macht, „die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld“.

In den Kapiteln über Tampa, Florida demonstriert Packer den Wahnsinn der immer größer werdenden Immobilienblase

Packer erzählt einerseits die (Erfolgs-) Geschichten von amerikanischen Prominenten wie die des Rappers Jay-Z, der republikanischen Politiker Newt Gingrich und Colin Powell, der Talkmasterin Oprah Winfrey, des Wal-Mart-Gründers Sam Walton oder eben des typischen Silicon-Valley-Moguls Peter Thiel; und andererseits die von weniger prominenten Amerikanern, diese jedoch mit mehr Anteilnahme und viel, viel ausführlicher: neben der von Tammy Thomas aus der sterbenden Industriestadt Youngstown, Ohio, die Geschichte von dem glücklosen Unternehmer und Biodiesel-Erfinder Dean Price aus North Carolina. Und die des Politberaters Jeff Connaughton, der in Washington im Umfeld des Weißen Hauses oft nicht weiß, ob er an seinen Idealen festhalten oder sich der Lobbyarbeit und dem eigenen Vorankommen widmen soll.

Am härtesten und eindrücklichsten jedoch sind vielleicht die Schicksale und Geschichten, die sich in den Kapiteln über Tampa, Florida, kreuzen. In diesen demonstriert Packer vor allem den Wahnsinn der immer größer werdenden Immobilienblase und ihres brutalen Platzens, unter anderem mit einem Blick auf die Wohnanlage Carriage Pointe: „Carriage Pointe war nicht tot“, weiß Packers Gewährsmann, ein Journalist der örtlichen „Tampa Bay Times“, in fünf oder zehn Jahren würde es seiner Ansicht nach so aussehen: „ein Slum, ein gesichtsloser Ort auf dem Land. Die Reichen waren in die Städte gezogen, die Armen hausten hier draußen, und Tampa wartete noch immer darauf, dass der Wachstumsmotor ansprang und die Krise wie von selbst vorüberging“.

Cover von George Packers Buch "Die Abwicklung"
Cover von George Packers Buch "Die Abwicklung"

© Verlag

Die Krise, sie ist bei Packer allgegenwärtig: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Da gibt es die ideologischen Verwerfungen, die Macht des Geldes, die Verwahrlosung und Zynismen des politischen Systems, der brutale Kampf der Universitäten gegeneinander, ihre abnehmende Bedeutung – und da gibt es eine Familie wie die Hartzells aus Tampa, die es hierhin und dorthin verschlägt, die ein krebskrankes Kind hat, die sich mit Jobs beim Einzelhandelskonzern Wal-Mart für unter zehn Dollar die Stunde über Wasser hält und am Ende, als der Vater wieder mal seinen Job verloren hat, nach Bezahlen aller Rechnungen noch fünf Dollar bis zum Monatsersten hat.

Es ist ein hässliches Bild, das Packer aus dem Inneren des modernen Amerikas zeichnet, und ein umfassendes, die Grenzen einer Totalen erreichendes zumal. Wie seltsam und fremd erscheint dieses Amerika aus kontinentaleuropäischer Sicht, wie anders wird hier gelebt! Und wie nah ist es doch wieder, wie vieles strahlt nach Europa ab! Der ja sowieso schon länger zu Tode geträumte amerikanische Traum jedenfalls, den gibt zwar es noch, aber nur noch für sehr, sehr wenige. „Es gab Zeiten“, so Packer über den Hip-Hop-Unternehmer Jay-Z, „da sah er sich in seinem Leben um und dachte, die Gesetze der Menschen gälten für ihn nicht.“

Es zeichnet George Packer aus, dass er bei aller Empathie und Sympathie für die Abgehängten und Verlierer, bei mancher Schärfe gegenüber Leuten wie Jay-Z oder Sam Walton relativ emotionslos bleibt, nüchtern und sachlich, wie es sich für einen Sachbuchautor gehört. Packer lässt die Fülle der Details, die Fülle der Geschichten für sich sprechen; er betont manche Gegensätze und lässt viele von ihm dann durchaus bewunderte amerikanische und stets dieselben bleibenden Stimmen zu Wort kommen, „die lauten, sentimentalen, wütenden, sachlichen Stimmen“. Und er ist am Ende gar nicht so pessimistisch, wie es nach der mitunter höchst ernüchternden, ins kapitalistische Mark treffenden Lektüre den Eindruck machen könnte. Ob Tammy Thomas oder Peter Thiel, Dean Price oder Jeff Connaughton, ob die Hartzells oder andere Einwohner von Tampa, Florida: Sie alle stehen immer wieder auf, lassen sich nicht unterkriegen, machen weiter und weiter. Denn jede Abwicklung ist nicht zuletzt ein potenzielles Freiheitsversprechen – wie auch immer der Einzelne dieses dann einzulösen vermag.

George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 510 Seiten, 24, 99 €.

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