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Hans Keilson: Herausgefallen aus der Welt

Letzter Überlebender der deutschen Exilliteratur: Hans Keilson wird 100.

Katastrophen beginnen selten mit einem großen Knall. Meistens kündigen sie sich leise an, mit einem Knirschen im Gebälk. Hans Keilsons Roman „Das Leben geht weiter“ erzählt aus der Perspektive einer deutschen Kleinstadt vom schleichenden Niedergang der Weimarer Republik und vom Aufstieg des Nationalsozialismus. Der Zusammenbruch der alten Wirtschaftsordnung, die Radikalisierung der von Armut bedrohten Arbeiter und Angestellten, die Suche nach Sündenböcken und einem Erlöser – das alles wird in lakonischem Tonfall, aber mit beinahe schmerzhafter Präzision anhand der Figur eines Kaufmanns geschildert, der sein kleines Textilkaufhaus durch Inflation und Weltwirtschaftskrise zu retten versucht und doch dem Bankrott nicht entgeht. „Kein Mensch hat Geld, nur sehr wenige noch Arbeit, und so geht es immer noch weiter, es langt eben zu nichts“, heißt es an einer Stelle. „Sieger bleibt der, der die stärkste Lunge hat, es am längsten aushalten kann.“

Verlierer würden am Ende nicht nur ein paar Arbeitslose und Geschäftsleute sein, sondern die Demokratie an sich. Aber das stand noch nicht fest, als der Roman im März 1933 erschien. „Das Leben geht weiter“ war das letzte Buch eines jüdischen Autors, das im S.-Fischer-Verlag herauskommen konnte, ein Dreivierteljahr später stand es auf der Verbotsliste. Keilson hat in dem Roman seinen eigenen Vater porträtiert, einen glücklosen Geschäftsmann, mit dem namenlosen Provinzstädtchen ist das brandenburgische Bad Freienwalde gemeint, wo der Autor vor hundert Jahren, am 12. Dezember 1909, geboren wurde. Doch die Tatsache, dass es sich um eine jüdische Familie handelt, die hier in den Ruin stürzt, wird mit keinem Wort erwähnt. Nur einmal kommen die Selbstzweifel des jugendlichen Erzählers – unverkennbar ein Selbstporträt Keilsons – zur Sprache: „Er empfand sich ausgestoßen und hintangesetzt, ohne Anschluss. Manchmal glaubte er, dass er nicht in diese Zeit gehöre.“

Hans Keilson, der 1936 in die Niederlande floh, ist der letzte Überlebende einer Schriftstellergeneration, die von den Nationalsozialisten ins Exil gedrängt wurde. Zum politisch denkenden und handelnden Menschen machten ihn erst die Umstände. Den Anlass zur Emigration gaben die Nürnberger „Rassegesetze“, doch wie groß die Bedrohung tatsächlich war, wollte er nicht wahrhaben. „Ich war blind, so deutsch bin ich gewesen“, sagt Keilson in einem Interview in einer Sonderausgabe der „Neuen Rundschau“, mit der sein Verlag ihn zum hundertsten Geburtstag ehrt. Weil Politik für ihn „ein zu gefährliches, ein lebensbedrohliches Feld“ war, kommt der bis zum Bürgerkrieg aufgeheizte Parteienstreit am Ende der Weimarer Republik in seinem Debütroman nur in abstrahierter Form vor. Und die „geballten Fäuste“ eines Berliner Arbeiter-Demonstrationszugs auf der letzten Seite verschwanden, weil der Lektor Oskar Loerke mit dieser KPD-Assoziation nicht die Auslieferung des Buches gefährden wollte.

Zum ersten Mal Opfer von Antisemitismus wurde Keilson als 16-jähriger Schüler. Als er im Deutschunterricht ein Heine-Gedicht vortragen wollte, erhob der Klassensprecher Einspruch: „Die Klasse lehnt es ab, über dieses Gedicht zu diskutieren, es beschmutzt das eigene Nest.“ Bis zum Abitur zwei Jahre später hat kein Mitschüler mehr mit Keilson gesprochen. Er ging nach Berlin, um Medizin zu studieren, und schlug sich als Trompeter und Geiger in Jazzkapellen durch. Die flirrende Atmosphäre der Großstadt mit ihren Kaufhauspalästen und den Tanzvergnügungen in der Kroll-Oper oder dem Zoo-Palast hat Keilson später in Essays und dem Roman „Der Tod des Widersachers“ beschrieben, seinem literarisch anspruchsvollsten Buch.

Das halb fertige Manuskript vergrub der Autor in seinem Garten, als die Deutschen 1940 die Niederlande besetzten und er sich mit einem gefälschten Pass einer Widerstandsgruppe anschloss. Der Erzähler des Buches ist ein Verfemter, der sich „in einer anderen Stadt, in einem anderen Land“ auf einem Dachboden versteckt hält, und bei dem „Widersacher“, über dessen Tod er sich am Ende freut, handelt er sich natürlich um Hitler, dessen Name allerdings nie genannt wird. Mit dem Schreiben trotzt dieser buchstäblich aus der Welt herausgefallene Held seiner Isolation, es ist für ihn „eine Art Zimmergymnastik en miniature“.

Er reite „auf zwei ungesattelten Pferden, dem der Wissenschaft und dem der Literatur“, hat Keilson einmal gesagt. Nach dem Krieg gründete er eine Hilfsorganisation zur Betreuung jüdischer Waisen und behandelte als Psychoanalytiker Kinder, die ihre Eltern im Holocaust verloren hatten. Seine Forschungen zur „sequentiellen Traumatisierung bei Kindern“, die dem ewig wiederkehrenden Schrecken eines von Menschen angerichteten Unheils nachspüren, waren bahnbrechend. In seinem Haus in Bussum, nördlich von Amsterdam, praktiziert er bis heute als Psychiater und Therapeut. Die Arbeit mit den Waisenkindern half ihm bei der Trauer um seine eigenen Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden. Seinem Vater hat Keilson 1997 ein bewegendes Gedicht gewidmet. „Mein Vater hieß Max“, heißt es da. „Trug später den verordneten Namen Israel / mit Würde. / Hat nicht viel erzählt, hab ihn zu wenig befragt. / Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – / sprachloser Himmel.“

Hans Keilson: Sämtliche Romane und Erzählungen, Fischer Taschenbuch Verlag, 587 S., 12,95 €. – Neue Rundschau. Hans Keilson 100, S. Fischer, 172 S., 12 €.

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