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© akg-images/Erich Lessing

Literatur: Im Faulbett

Wolfgang Sofsky kämpft sich durch einen Katalog der menschlichen Laster. Sofsky will sich nicht von konkreten Beispielen verführen lassen, man könnte auch sagen: Er mag sich keine Mühe mit ihnen machen.

Es ist keine schöne Aufgabe, ein Buch zu rezensieren, von dem sich der Leser viel versprochen hat, was der Verfasser nicht halten wollte. Allerdings können Autoren nichts für die Erwartungen ihrer Leser, und seriöse Urteile haben sich nicht an dem zu orientieren, was die Leser an die Bücher, sondern an dem, was die Bücher an die Leser herantragen. Von einem Apfel kann man nicht verlangen, dass er wie Birne schmeckt. Darf man von einem neuen Sofsky-Band verlangen, dass er sich wie ein alter liest?

Misst man sein neu erschienenes „Buch der Laster“ an seinem „Traktat über die Gewalt“ von 1996 und an der Abhandlung „Zeiten des Schreckens“ von 2002, kommt man zu dem Ergebnis, dass der Analytiker zum Apodiktiker versteinert ist. Der Ton des Zeremonienmeisters durchherrscht das neue Buch. Am Ende eines jeden Satzes stampft sein Stock auf, als würden alle diese Sätze zur Audienz gerufen.

Ein Beispiel aus dem Kapitel über die Feigheit: „Im Streitfall sucht der Hasenfuß sofort nach Eintracht. Harmoniesucht gehört zu den unangenehmsten Ausgeburten menschlicher Feigheit. Sie tarnt sich als moralische Tugend und propagiert Friedhofsruhe als Beweis der Vernunft. Nichts ist ihr verhasster als Streit und Zwist.“ Die sachliche Schwäche dieses starken Behauptens liegt darin, dass genau genommen überhaupt nichts behauptet wird. Die definitive Rhetorik panzert Banalitäten und legt den Harnisch um die verwundete Autorenbrust, wie in diesem Beispiel aus dem Kapitel über den Neid: „Der neidische Kritikaster leugnet mit Vorliebe die fremde Leistung. Aufmerksam liest er das Werk und ärgert sich über jede schöne Stelle und seltene Einsicht. Vor allem jedoch späht er nach Irrtümern oder abweichenden Meinungen.“

Sofskys Katalog der Laster beschränkt sich nicht auf die sieben Todsünden der christlichen Tradition. 18 Positionen hat dieser Katalog, die Kapitel für Kapitel abgehandelt werden, von der Gleichgültigkeit über Vulgarität und Trägheit bis zu Geltungssucht und Grausamkeit. Auch Habgier, Neid und Zorn fehlen nicht.

Sofsky will sich nicht von konkreten Beispielen verführen lassen, man könnte auch sagen: Er mag sich keine Mühe mit ihnen machen; und so bleibt alles gebildet im Ungefähren. Auch zitiert wird nicht, immer nur angespielt. Dazu passen auch die verbalen Altertümer, die Sofsky in seinen Text setzt wie andere antike Götter aus dem Baumarkt in den Garten. Im Kapitel über die „Trägheit“ kommt also ein „Faulbett“ vor, das dem Menschen durch Wille und Mut „vergällt“ wird. Im Kapitel über die „Maßlosigkeit“ wird das „Necken und Kichern beim Lustspiel“ in Schutz genommen.

An dieser Stelle wendet sich Sofsky gegen die „Propagandisten allseitiger Korrektheit“, denen dieses Necken und Kichern als Gefahr für die Menschenwürde erscheine. Wo hat der Mann das nur her? Sofskys Schärfe kann über die Unschärfe seiner Begriffe nicht hinwegtäuschen. Die Kapitel schwanken alle unentschieden zwischen Charakterbildern und Lasterschelte, überzeitlicher Moralpredigt und philosophischem Donnerwort.

Trotz allem ist das Buch keine wahllose Ansammlung von Beschwerden. Es hat zwei ethische Leitmotive: Haltung und Freiheit. Die innere Haltung des Menschen und sein Engagement für die äußere Freiheit machen den Menschen zu dem, was er ist: unverbesserlich, aber nicht immer schlecht. „Haltung ist nichts anderes als die innere Form, die sich der Mensch selbst gibt.“ Und über die Freiheit heißt es im Kapitel über die Unterwürfigkeit: „Der Unterwürfige verletzt die Pflicht gegen sich selbst. Er verschleudert seine Freiheit und missachtet sich als Subjekt mit eigenem Willen.“

Das Vertrauen auf die menschliche Fähigkeit, Haltung zu bewahren und Freiheit zu verteidigen heißt jedoch nicht, dass die Gattung insgesamt zu dem fähig wäre, was die armen alten Aufklärer einst die „Erziehung des Menschengeschlechts“ nannten. „Die moralische Verbesserung des Menschen ist ausgeblieben“, heißt es, gleich nachdem Sofsky mit einer Beschreibung von Andrea Mantegnas Gemälde „Die Vertreibung der Laster aus dem Garten der Tugend“ den Anfang gemacht und vielversprechend falsche Hoffnungen geweckt hat.

Dass es in moralischen Angelegenheiten keinen Fortschritt gebe, ist entweder so allgemein gesagt, dass es nichts sagt. Oder es stimmt nicht, wenn es genau genommen wird. Sofsky selbst wehrt sich gegen die billigen Relativismen, die weniger mit der kulturellen Bedingtheit der Werte zu tun haben als mit der persönlich bedingten Trägheit des Herzens. Wie überall in diesem Buch bleibt Sofsky also auch hier, wo es ihm doch ums Ganze gehen sollte, in Halbheiten stecken. Bitte, Wolfgang Sofsky, vor einigen Jahren sind Sie vom Katheder gestiegen, steigen Sie nun vom Kothurn.

Wolfgang Sofsky: Das Buch der Laster. Verlag C.H. Beck, München 2009. 272 Seiten, 19,90 €.

Bruno Preisendörfer

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