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© Thilo Rückeis

Interview: Kafkas letztes Geheimnis

Biograf Reiner Stach über den Nachlass-Streit um Max Brod und eine neue Spur zu Franz K.

Herr Stach, Sie gelten nach zwei außergewöhnlichen Büchern zum Leben und Werk Franz Kafkas als dessen wichtigster Biograf. Welche Bedeutung für die kulturelle Welt hat der bizarre Erbschaftsstreit, der zurzeit vor einem Familiengericht in Tel Aviv um den Nachlass des aus Prag stammenden Autors und engsten Kafka-Freundes Max Brod ausgefochten wird?



Es ist genau genommen der Nachlass von Ester Hoffe, der früheren Mitarbeiterin und Freundin des 1968 verstorbenen Max Brod, den die Töchter Eva und Ruth Hoffe seit 2007, seit dem Tod ihrer Mutter Ester, als Erben beanspruchen. Hierzu gehören zunächst Max Brods eigene Schriften: seine Notizbücher und die Korrespondenzen mit vielen berühmten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Daneben gibt es noch einige wenige Kafka- Manuskripte. Sie waren Brod von Kafka zu Lebzeiten geschenkt worden, und Brod hatte sie nach Kafkas Tod 1924 entgegen dessen Wunsch nicht verbrannt und 1939 bei seiner Flucht vor den Nazis aus Prag ins damalige Palästina gerettet.

Darunter war auch die Handschrift des Romans „Der Process“, die Ester Hoffe 1988 bei Sotheby’s in London versteigern ließ und die das Deutsche Literaturarchiv Marbach für rund zwei Millionen Dollar erworben hat. Auf sie erhebt nun das Israelische Nationalarchiv Ansprüche.

Das ist völlig unverständlich, weil Brod schon 1945 alle ihm gehörenden Kafka-Handschriften an Ester Hoffe weitergeschenkt hatte und weil die Rechtsgültigkeit dieser Schenkung bereits 1974 von einem israelischen Gericht anerkannt wurde. Israel hat auch 20 Jahre lang keine Einwände gegen die Versteigerung des „Process“-Manuskripts und den Zuschlag an Marbach geltend gemacht. Doch sind noch einige wenige Kafka-Manuskripte bei den Hoffes verblieben: ein paar Blätter aus dem „Brief an den Vater“ und das Manuskript der Erzählung „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“, die in einem Banksafe in Zürich liegen, aber längst veröffentlicht sind. Das Kuriose ist ja: Bei dem Prozess in Tel Aviv, bei dem das israelische Staatsarchiv behauptet, dass der Brod-Nachlass zum nationalen Kulturerbe gehöre und der Disposition der Hoffe-Schwestern entzogen werden müsse, geht es fast gar nicht um Brod. Es ist immer nur von Kafka die Rede, und man schürt das Gerücht, es schlummerten da im Verborgenen noch unbekannte Kafka-Texte.

Und die schlummern dort nicht?

Nein, mit größter Wahrscheinlichkeit nicht. In einem Safe in Zürich wartet allerdings noch ein Karton, der wohl etliche unbekannte Zeichnungen von Kafka enthält. Die endlich zu sehen, wäre natürlich reizvoll.

Woher wissen Sie das so genau?

Es gibt von dem Schweizer Philologen Bernhard Echte eine in den 1980er Jahren unter Aufsicht von Ester Hoffe erstellte detaillierte Inventarliste des Brod-Nachlasses, der in diversen Banksafes in Zürich und Tel Aviv sowie in der Tel Aviver Wohnung von Frau Hoffe untergebracht ist. Ich besitze eine Kopie dieser mehr als 140 Seiten, und daraus ergibt sich, dass es um einen riesigen Nachlass geht: mindestens 20 000 Blatt, darunter viele Briefe von und an Brod, Tagebücher, Vortragsmanuskripte usw. Auch für die Kafka-Forschung steckt darin hochinteressantes Material. Ein Umschlag mit dem Vermerk „viel über Kafka“ enthält zum Beispiel Brods Notizbücher aus den Jahren ab 1901, in denen er fast täglich mit Kafka verkehrte und in denen sich die beiden Jugendfreunde über Lektüren und gemeinsame kulturelle oder auch amouröse Unternehmungen austauschten. Dies wäre eine Fundgrube für den noch ausstehenden Band meiner Kafka-Biografie ...

... in dem Sie wie in einer filmischen Rückblende Kafkas Anfänge beleuchten wollen.

Von Interesse sind hierbei alle noch unbekannten Zeugnisse über Kafka, weniger seine verbliebenen Autografen. Deren Inhalt ist ja bekannt, allerdings haben sie beträchtlichen materiellen Wert. Gerade ist ein von Ester Hoffe schon früher verkaufter achtseitiger Kafka-Brief an Max Brod für 120 000 Franken in Basel von einem Unbekannten ersteigert worden. Aber dieser und alle noch im Brod-Nachlass vorhandenen Briefe Kafkas sind vom S. Fischer Verlag längst publiziert worden, ebenso die Reise-Tagebücher, die Kafka und Brod parallel führten. Dem Staat Israel hatten die Hoffes davon ebenfalls Kopien zur Verfügung gestellt, was nach israelischem Recht Vorbedingung für den Verkauf solcher Autografen ist.

Im „Zeit“-Feuilleton war kürzlich von dem hoffeschen „Brod-Archiv“ die Rede. Aber das gibt es gar nicht, es müsste auf der Basis des umstrittenen Nachlasses überhaupt erst begründet werden.

Das ist der springende Punkt. Doch gibt es Anlass zur Hoffnung. Denn die Hoffe- Töchter, zwei Damen über 70, haben offenbar begriffen, dass sie nicht mehr – wie ihre Mutter – lauter Einzelstücke meistbietend verstreuen sollten. Das ist bei dieser kulturellen Bedeutung nicht vertretbar. Es hätte auch nicht die Billigung Brods gefunden. Dessen testamentarischen Wünsche sind zwar widersprüchlich, aber wir wissen, dass ihm das Literaturarchiv in Marbach recht sympathisch war.

Früher hatte Ester Hoffe als Zeitzeugin des Holocaust Bedenken, mit deutschen Institutionen zu kooperieren.

Das war historisch und menschlich verständlich. Aber dass Handschriften von Kafka oder Brod allein aus kommerziellen Gründen in irgendwelchen privaten Tresoren versenkt werden, ist auch nicht zu verantworten. Marbach wäre sicher der richtige Ort für den Brod-Nachlass, weil man dort die Wissenschaftler und die Erfahrung hat im Umgang mit Kafka, Brod und der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Dass die Hoffe-Töchter mit Marbach jetzt ernsthaft verhandeln, hat im Israelischen Nationalarchiv irgendwelche Ressentiments oder Begehrlichkeiten geweckt. Dort jedoch fehlen für diese deutschsprachigen Texte aus dem einstigen Kulturraum zwischen Wien, Prag und Berlin die sprach- und milieukundigen Leute. Brod hatte ja schon als junger Mann zahllose Kontakte geknüpft, zu Heinrich Mann, zu Rilke, Schnitzler, Karl Kraus, Wedekind oder zu Komponisten wie Janacek, und er besprach diese Korrespondenzen mit Kafka. Aber das war Jahrzehnte, ehe er nach Palästina kam – hier von israelischem Kulturgut zu sprechen, erscheint mir ganz abwegig. In Israel gibt es heute weder eine Kafka-Gesamtausgabe noch eine einzige Straße, die nach Kafka benannt wäre. Und suchen Sie Brod auf Hebräisch, müssen Sie ins Antiquariat gehen.

In Tel Aviv wird vor Gericht jetzt um die Einsicht in fünf Banksafes gestritten. Passen da 20 000 Seiten Nachlass hinein?

Sicher nicht. Ich vermute, sehr vieles liegt noch in Eva Hoffes beiden Wohnungen in Tel Aviv. Bisher verwehren die Schwestern aus Misstrauen gegenüber den prozessierenden Behörden den Zugang; es gab auch schon einen Einbruchsversuch, und man muss Sorge haben, dass der Brod-Nachlass dort in keinem konservatorisch guten Zustand ist. Außerdem gibt es noch Brods Bibliothek: mit Widmungsexemplaren von Kafka und vielleicht sogar Büchern aus Kafkas eigenem Besitz! Das sind Schätze, von denen noch gar nicht die Rede war, weil sich derzeit alles um den absurden Gerichtsstreit um Safeschlüssel und angeblich unentdeckte Kafka-Manuskripte dreht.

Das konnte Max Brod aber nicht alles 1939 auf der Flucht vor den Nazis im Reisekoffer mitgenommen haben.

Nein, das wurde größtenteils versteckt und erst nach 1945 nach Palästina oder später nach Israel verschifft. Es ist eine interessante Frage, was nach 1939 und nach 1945 in Prag geschah. Brods Bruder Otto, der sich zuerst um die Hinterlassenschaft gekümmert hatte, wurde in Auschwitz ermordet. Auch insoweit müsste die Geschichte des geretteten Brod-Nachlasses einmal genauer erforscht werden. Ausgerechnet in Israel versucht man das im Moment juristisch zu behindern, das ist eine fast tragische Pointe.

Was genau ist eigentlich mit Kafkas Manuskripten geschehen?

Brod hatte alles Wesentliche, auch aus dem kafkaschen Familienbesitz, 1939 gerettet. Die Manuskripte, die ihm nicht selbst gehörten, hat er nach Kriegsende im Auftrag der Kafka-Erben, dreier Nichten, die dem Holocaust entgangen waren, erst in Israel und dann aus Sicherheitsgründen in Schweizer Banksafes bewahrt und 1961 an die Bodleian Library in Oxford gegeben. Das war ein großes Glück und betraf unter anderem die Manuskripte des „Schloss“-Romans, des „Verschollenen“ und die Tagebücher. Brod selber verfolgte nie irgendwelche materiellen Interessen. Mit der Schenkung des Übrigen an Ester Hoffe begann dagegen die jahrzehntelange Misere.

Trotzdem ist der Weltkontinent Kafka nicht gerade unerforscht.

Es ist aber längst noch nicht alles erkundet! Nur ein Beispiel: Im Brod-Nachlass in Tel Aviv liegen auch etwa 70 Briefe von Dora Diamant an Max Brod.

Dora Diamant war Kafkas letzte Berliner Freundin, die ihn bis zu seinem Tuberkulose-Tod 1924 im Sanatorium in Kierling bei Wien gepflegt hat.

Und ihre Briefe an Brod handeln auch von verschollenen Kafka-Manuskripten.

Tatsächlich? Es gibt doch noch Unbekanntes von Kafkas Hand?

Ja, laut Dora 20 kleine Notizhefte, in die Kafka vor seinem Tod geschrieben hat. Als Kafka starb, nahm Dora Diamant diese Hefte an sich. Max Brod hat in seinen Briefen gleich nach Kafkas Tod immer wieder danach gefragt, aber Dora behielt die Notizen als intimes Andenken in ihrer Berliner Wohnung. Natürlich auch Kafkas an sie gerichtete Briefe.

Dora war Jüdin, was geschah ab 1933?

Sie wurde erst Schauspielerin, dann heiratete sie einen Kommunisten, der von den Nazis verfolgt wurde und in die Sowjetunion floh. Auch Dora ist ihm 1936 gefolgt, aber die Gestapo hat zuvor ihre Berliner Wohnung durchsucht und alles beschlagnahmt, auch die zurückgelassenen Kafka-Papiere. Dora hat ihren Mann, der während Stalins Säuberungen verhaftet wurde und in den Gulag kam, nicht mehr wiedergesehen und ist selber auf abenteuerliche Weise weiter nach London geflohen, wo sie 1952 gestorben ist.

Und die Kafka-Manuskripte?

Die sind verschollen. Doch es gibt vielleicht eine Spur. Eine kalifornische Autorin, die, kein Witz, Kathi Diamant heißt, aber wohl nicht verwandt ist, hat 2003 eine bisher merkwürdigerweise nicht ins Deutsche übersetzte Biografie über Dora geschrieben und dann an der Universität von San Diego ein internationales „Kafka Project“ gegründet. Im Sommer 2008 ist sie mit einigen Mitarbeitern nach Tschechien und Polen gefahren und glaubt jetzt Indizien zu haben, dass die von der Gestapo konfiszierten Kafka-Papiere heute in polnischen Archiven liegen. In Krakau oder Warschau.

Das wäre ja ein Kafka-Hammer. Ein literarisches Bernsteinzimmer!

Mal abwarten. Bisher sind diese Archivbestände blockiert, weil man sich zwischen der Bundesrepublik und Polen noch immer uneins ist über die Rückgabe wechselseitig geraubter Dokumente. Aber vermutlich würden wir genauer wissen, nach was wir dort zu suchen hätten, wenn wir endlich Doras Briefe an Max Brod einsehen könnten. Und das entscheidet sich in Tel Aviv.

Das Gespräch führte Peter von Becker.

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