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Annie Proulx

© Lebrecht Music

Interview: Verliebt in Wyoming

Die Bestsellerautorin E. Annie Proulx über ein weites Land - und den Fluch der Inspiration.

Mrs. Proulx, bevor Sie 1988 als Romanautorin debütierten, haben Sie Kochbücher und Ratgeber geschrieben. Wie sind Sie zum Erzählen gekommen?

Mit diesen Auftragsarbeiten habe ich dafür gesorgt, dass Essen auf den Tisch kam. Eigentlich wollte ich immer schon Erzählendes schreiben, aber ich hatte ja Kinder. Erst als mein jüngster Sohn aus dem Haus war, habe ich damit begonnen. Ich hatte früher in Zeitschriften publiziert, und einer der Herausgeber ging zu einem Buchverlag, zu Scribner. Er meinte, ich hätte genug Material für eine Sammlung von Short Storys. In meinem Vertrag für die „Herzenslieder“ wurde dann auch ein Romanmanuskript vereinbart. Also musste ich einen Roman schreiben, für den mir anfangs nicht mal ein Thema einfiel.

Das war „Postkarten“. Seitdem hat jeder Ihrer Romane eine bestimmte Landschaft erkundet.

Für mich basiert alles auf der Landschaft. Damit Geschichten Gestalt annehmen, erkunde ich die Geologie, die Geografie, das Klima, das Wetter, wovon die Leute leben, was sie essen. Zuerst war es das nördliche Neuengland für „Herzenslieder“, dann ganz Amerika für „Postkarten“, danach Neufundland für „Schiffsmeldungen“, und die letzten zehn Jahre Wyoming.

Wieso ausgerechnet Wyoming?

Ich brauchte einen Ort im Westen, wo sich mein Protagonist eine Weile aufhalten konnte. Um ihn zu begleiten, wollte ich einige Wochen in Ucross, einer Künstlerkolonie, verbringen. Ich fuhr los, und als ich den Missouri überquerte, hatte ich das Gefühl von etwas Unbekanntem. Ein zarter Schnee bedeckte ein Stoppelfeld mit gelbem Gras. Plötzlich entstand aus dieser Schneedecke und dem Gelb, das da hindurchschien, eine Farbe, wie ich sie noch nie gesehen hatte, sich kräuselnde Wellen von flirrendem Violett. Wie wunderbar, so begrüßt zu werden! Ich mochte die Ausblicke, diesen endlosen Himmel 150 Meilen weit – eine befreiende Erfahrung. Ich war verliebt in diese Landschaft, in die Berge, in den Himmel. Ich bin dann innerhalb eines Jahres dorthin umgezogen.

Im Mittelpunkt Ihres Erzählens stehen verlassene, raue Gegenden. Warum ist der nicht-industrialisierte Teil der Vereinigten Staaten für Sie so interessant?

Ich habe immer auf dem Lande gelebt. Als Historikerin beobachte ich den Unterschied zwischen den urbanen Zentren und den Menschen, die in ländlicher Umgebung leben und eine völlig falsche Vorstellung von Unabhängigkeit und Freiheit haben: Sie meinen, sie könnten eigene Entscheidungen treffen. Tatsächlich werden diese Entscheidungen aber für sie in der Stadt getroffen.

In dem Roman „Das Grüne Akkordeon“ berichten Sie über die Erfahrungen von Einwanderern. Inwiefern sind die USA ein Modell für Integration?

Viele meiner Geschichten basieren auf wahren Begebenheiten. Daher ist dieses Buch, in dem es um acht oder neun verschiedene Nationalitäten geht, so hart. Das Akkordeon des Titels hält alles zusammen, ein kleines, leicht zu spielendes Instrument, das von Hand zu Hand weitergereicht wurde. Die USA waren tatsächlich ein Schmelztiegel, man musste Amerikaner werden, alles andere ließ man hinter sich. Der Name wurde geändert, die Religion, die Sprache, alles ging verloren, bis auf das, was man bei sich trug und woran man sich erinnerte. In Kanada hingegen konnte man immerhin an kulturellen Dingen festhalten. Das berühmte kanadische „Mosaik“ führte zu einem ganz anderen Ergebnis.

Die meisten Ihrer Hauptfiguren sind Männer, während die Frauen eher im Hintergrund die Fäden zusammenhalten.

Ich schreibe nicht aus einer männlichen Perspektive, ich schreibe aus der Sicht eines allwissenden Autors. Wyoming ist ein Männerland, man würde die Tatsachen verdrehen, wenn man da nicht über Männer schreiben wollte. Mein dritter Storyband „Fine Just the Way It Is“, der im September bei Scribner in den USA erscheint, ist vielleicht anders, weil hier Frauen eine größere Rolle spielen. Die Menschen im Westen sind wortkarg. Beim Schreiben muss man da auf knappe Dialoge achten. Ein Bekannter von mir, der immer Cowboy werden wollte, ist kürzlich nach Wyoming gezogen. Er fand auf einer Ranch Arbeit, aber es hat ihn fast zum Wahnsinn getrieben, dass niemand geredet hat.

Auch in Ihrer Short Story „Brokeback Mountain“ geht es um Männer – um die mehr oder weniger unmögliche Liebe zwischen zwei Cowboys.

Das Buch handelt von jenem Mythos des Westens, von den Illusionen der Menschen, die meinen, in ihrem Staat Freiheit und Unabhängigkeit zu haben. „Brokeback Mountain“ dreht sich nicht so sehr um eine Liebe zwischen zwei Männern. Vielmehr hat mich diese zugeknöpfte Kultur, in der das 19. Jahrhundert noch als das Goldene Zeitalter gilt, beschäftigt Mir ging es um die Einbildung, dass es in Wyoming keine Homosexuellen gibt. Ich sah einmal in einer kleinen Bar einen älteren Mann, der ein paar jüngere Männer beim Poolspielen beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war irgendwie unheimlich, er sah traurig aus und zugleich begierig und leidenschaftlich. Vielleicht arbeiteten sie alle auf derselben Ranch, nach ihrer Kleidung zu urteilen waren sie alle Cowboys. Oder vielleicht war einer von ihnen ein Neffe dieses Mannes. Oder ein heimlicher Homosexueller.

Postkarten, Knoten, Akkordeons, ungewöhnliche Namen – Sie verwenden eine Reihe von ungewöhnlichen Motiven.

Die Knoten, die die „Schiffsmeldungen“ auch als Illustration zusammenhalten, kamen erst ziemlich spät ins Spiel. Bei einem Bibliotheksverkauf ist mir das „Ashley-Buch der Knoten“ in die Hand gefallen. Bei uns verkaufen die kleinen Bibliotheken auf dem Land Bücher, die nicht häufig genug ausgeliehen werden, so hatte ich das Glück, dieses wunderbare Buch für einen Quarter zu erwerben. Ich wünsche, ich könnte mehr über die Welt der Knoten schreiben, die Mathematik der Knoten, Nachrichten, die durch Knoten verschlüsselt werden.

Wie hat sich das Buchgeschäft in Ihren Augen über die Jahrzehnte verändert?

Wenn man den Wahrsagern glaubt, geht es den Bach runter. Wir wissen, dass die Leute weniger lesen und mehr bewegte Bilder sehen wollen. Das ganze Geschäft des Bücherschreibens ist im Umbruch. Meiner Meinung nach ist es aber eine gesunde Entwicklung, dass kleine Verlage gegründet werden. Dass das System der literarischen Stars ins Wanken gerät, ist doch ganz gut. Heutzutage überlebt ein Buch in der Buchhandlung kaum länger als ein paar Monate.

Lernen Sie da noch neue Autoren kennen?

Seit einigen Jahren bin ich ganz vernarrt in den irischen Autor Aidan Higgins. Er ist zwar in den USA kaum bekannt, aber es ist wunderbar, gerade zum jetzigen Zeitpunkt in meinem Leben einen solch glänzenden Autor kennenzulernen. Außerdem gefällt mir der 1999 verstorbene J. F. Powers sehr, ein amerikanischer Short-Story- und Romanautor mit irischem Hintergrund.

Inspiriert Sie diese Lektüre beim Schreiben?

Ich habe ja erst Anfang fünfzig mit dem Schreiben begonnen, also hatte ich genug Lebenserfahrung angesammelt. Inspiration ist ein Wort, das mir zu romantisch klingt. Ich habe so viele Geschichten im Kopf, dass ich nur die Zeit brauche, sie zu Papier zu bringen. Also, bleib mir bloß fern, Inspiration!

Interview: Barbara von Bechtolsheim.

E. Annie Proulx hat Geschichte studiert und 30 Jahre lang in Vermont gelebt. Sie war dreimal verheiratet und hat eine Tochter und drei Söhne. Lange war sie als Journalistin und Sachbuchautorin tätig, bevor sie mit den Shortstorys Herzenslieder bekannt wurde. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mit vielen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. mit dem PEN/Faulkner Award und dem National Book Award für Postkarten (1992) sowie dem Pulitzer-Preis für Schiffsmeldungen (1993).
Ein Welterfolg wurde auch der gleichnamige Film und Ang Lees Verfilmung ihrer Erzählung Brokeback Mountain. Auf Deutsch erschienen bei Luchterhand zuletzt ihre Storys Hinterland.

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