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Jurjews KLASSIKER: Der Mensch ohne Eigenschaften

Falls Sie irgendetwas über Russland erfahren wollen, falls Sie zu begreifen gieren, warum die verfrorenen Deutschen ihren Blitzkrieg verloren haben, falls Sie an ,Ideen’, ,Fakten’ und ,Tendenzen’ interessiert sind, Finger weg von Gogol. Er hat Ihnen nichts mitzuteilen“, schrieb Vladimir Nabokov 1944 in einem Essay über Nikolai Gogol.

Falls Sie irgendetwas über Russland erfahren wollen, falls Sie zu begreifen gieren, warum die verfrorenen Deutschen ihren Blitzkrieg verloren haben, falls Sie an ,Ideen’, ,Fakten’ und ,Tendenzen’ interessiert sind, Finger weg von Gogol. Er hat Ihnen nichts mitzuteilen“, schrieb Vladimir Nabokov 1944 in einem Essay über Nikolai Gogol. Dieser gute Rat blieb ohne Wirkung: „Der Revisor“ (1836) wird nach wie vor als Satire auf die korrupte Bürokratie verstanden, „Der Mantel“ (1842) als eine Verteidigung des kleinen Mannes und die bei Artemis & Winkler gerade in einer Neuübersetzung von Vera Bischitzky und 89 Euro teuren Prachtausgabe erschienenen „Toten Seelen“ (1842) als – ja als was eigentlich? „Die toten Seelen“ erzählen die Geschichte eines Herrn Tschitschikow, dem die hervorragende Geschäftsidee eingefallen war, verstorbene Leibeigene, die fiskalisch gesehen noch am Leben waren, billig ihren Herren abzukaufen und dann bei einer Bank zu verpfänden. Eine Idee, die heute als die Urmutter einer postmodernen Wirtschaft gelten könnte, die gerade vor unseren Augen platzt. Man würde jedoch kaum wagen, Gogols „Poem“ (so die offizielle Gattungsbezeichnung ) als eine Wirtschaftssatire zu betrachten. Deshalb liest man sie als eine Satire auf ganz Russland.

Gogol, vor 200 Jahren in Groß-Sorotschinzy in der Ukraine geboren, reiste 19-jährig nach Sankt Petersburg, um eine große (noch unbestimmte) Karriere zu machen. Zunächst wollte er Schauspieler werden und veröffentlichte die romantische Dichtung „Hans Küchelgarten“, die so verlacht wurde, dass er die ganze Auflage von den Buchhändlern zurückkaufte und verbrannte. Dann bemerkte er, dass allerlei ukrainische Exotik in Mode war und begann in dieser Art zu dichten, was ihm bald die ersten Erfolge verschaffte.

Das Material für Schauergeschichten und Zauberschwänke in Prosa schöpfte er aus seinen Kindheitserinnerungen und Ferieneindrücken; als diese verbraucht waren, sollte seine Mutter ihm alles über Bräuche und Legenden, auch über die Kleidung seiner Heimat schriftlich berichten. Viel später, als er in Italien über dem zweiten Teil „Der toten Seelen“ saß, wünschte er von allen seinen Bekannten, dass sie ihm in ihren Briefen ausführlich über das Leben in Russland erzählten – er glaubte tatsächlich, das könne die eigene Erfahrung ersetzen. Warum nicht? Wo es doch einmal geklappt hatte?

Kurz: Gogols Universum ist ein fantastisches Land, das mit dem wirklichen Russland nur das fantastische Russisch gemein hat – einen Klang, den man auch in Peter Urbans Neuübersetzung der Petersburger Novelle „Aufzeichnung eines Wahnsinnigen“ (Friedenauer Presse, Berlin, 78 Seiten, 16 €) hören kann. Dieses Universum ist ein spezielles Gemisch aus Zauberhaftem, Schauderhaftem, Absurd-Tragischem und Komischem mit einem gewissen Hang zur Brutalität. Die Frage soll jedoch erlaubt sein, was er für ein Mensch war, in welcher fürchterlichen Welt er lebte, der er ständig entfliehen wollte und zwar mit einer einfachen Methode: Egal, ob er Erfolg hatte oder keinen – Nikolai Gogol reiste sofort ab. Ab 1836 war er fast ununterbrochen auf Reisen, wobei er Italien und besonders Rom als „Quasi-Zuhause“ bevorzugte.

Weder Zeitgenossen noch Nachkommen konnten ihn fassen – weder in kühnen Metaphern noch in nüchternen Medizinausdrücken. Sogar von einer besonderen Beziehung Gogols zum Teufel war die Rede, zur Leere, zum Tod. Pathologien wurden gesucht und gefunden, selbst Nekrophilie. Die großen Autoren bemühten sich: Wassilij Rosanow, Dmitrij Mereschkowskij, Andrej Belyj, namhafte und namenlose Psychiater, Philosophen und Literaturwissenschaftler, Patrioten und Popen. Doch selbst die elementarsten Fragen ließen sich nie klären: War er krank oder gesund, ein guter Mensch oder ein schlechter?

Doch, eine Frage wurde kürzlich beantwortet. Einer der führenden russischen Gogol-Forscher, Igor Solotusskij, erklärte neulich, er habe Gogols Haar im Institut der russischen Literatur, dem sogenannten Puschkinhaus, in Petersburg angefasst: Das Haar sei hell und sehr, sehr weich gewesen, dies beweise, dass Gogol ein gutherziger Mensch gewesen sein muss. Ist das nicht wunderbar?

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