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Jurjews KLASSIKER: Der preußische Samurai

Oleg Jurjew liest neue Biografien über Heinrich von Kleist

Die Aneignung einer neuen Kultur – zusätzlich zur eigenen – ist der Situation nicht unähnlich, in der man in eine neue Verwandtschaft hineinheiratet: mit sämtlichen Schwiegereltern, Schwippschwagern und -schwägerinnen und deren Geschichten und Beziehungen. Vielleicht werden dir diese Verwandten nie ganz geheuer sein, aber es kommt der Tag, an dem du plötzlich merkst, dass eine Cousine aus Pirmasens dir genauso lieb und teuer ist wie deine leibliche Großgroßtante vierten Grades, Gott hab’ sie selig, über die du so viel gehört hast, einst, vor dreißig Jahren.

Dass Heinrich von Kleist für die Deutschen so schmerzhaft wichtig ist, das habe ich, ehrlich gesagt, vor dreißig Jahren noch nicht gewusst. Seine Stücke habe ich zwar immer gern gelesen (in den etwas geglätteten, aber schönen Übersetzungen von Boris Pasternak), wusste (aus dem Vorwort), dass Michael Kohlhaas ein Vorbote revolutionärer Erhebungen der Volksmassen gegen den Feudalismus gewesen sei, konnte aber nicht die schwere Schwerelosigkeit von Kleists Sprache spüren, geschweige denn diese besondere Beziehung der Deutschen zu diesem Sonderling, ja Absonderling ahnen.

In Russland genoss Kleist nie einen Kultstatus wie in Japan, wo man ihn vielleicht auch des doppelten Selbstmordes am Kleinen Wannsee zusammen mit Henriette Vogel wegen verehrt, der in der japanischen Tradition der Samurai-Ära tief verwurzelt ist: Kleist als Idealbild eines Samurai.

Um endlich an das merkwürdige Genie von innen heranzukommen, nahm ich mir zwei neue dicke Kleist-Biografien zur Brust (Gerhard Schulz: Kleist. C. H. Beck, München, 608 S., 26,90 €; Jens Bisky: Kleist. Rowohlt Berlin, 528 S. 22,90 €). Jede der beiden hat ihre Vorzüge. Das Buch von Schulz ist so fein und einfühlsam geschrieben, dass es sich beinahe als „schöne Literatur“ liest. Deshalb war mir, als ich es zuschlug, etwas finster zumute: Das Schicksal des Helden hat mir aufrichtig leidgetan.

Nach der Lektüre von Jens Biskys Buch ging ich dagegen munter zur Tagesordnung über: Es war für mich „nur“ ein Sachbuch. Dafür bin ich Jens Bisky sogar dankbar: Trauerfälle habe ich in der eigenen Verwandtschaft zur Genüge: der 27-jährige Leutnant Lermontow zum Beispiel, 1841 bei einem blöden Duell erschossen ...

Aber Kleist? Ein preußischer Junker, 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, 1811 freiwillig gegangen, abgedankter Fähnrich, enttäuschter Student, entlaufener Bräutigam, erfolgloser Bauer, ausgebuhter Dramatiker (in Goethes Inszenierung!), zunächst prosperierender, dann doch binnen eines halben Jahres gescheiterter Journalist (mit den „Berliner Abendblättern“ 1810 der Erfinder der ersten deutschen Boulevardzeitung) – nichts im Leben konnte er richtig bewältigen. Allein der Tod ist ihm vollkommen gelungen, was nicht wenig ist. Und seine Dichtung.

Aber eben das Gelingen dieser Dichtung ist etwas, was einen verlegen machen kann. In manchem Werk Kleists spricht und schreit, und zwar schön und kräftig, die Inhumanität schlechthin – die grundlegende, universelle wie in „Penthesilea“, aber auch eine spezifische, für die nachfolgende Geschichte besonders schmerzliche, wie in der „Hermannschlacht“ und in den antifranzösischen Pamphleten, oder, etwas verdeckt, als Hymne an die Unterwürfigkeit des Menschen vor dem Staat, im „Prinz Friedrich von Homburg“.

Gute Menschen nehmen an, eine große Dichtung erwecke das Gute im Menschen. Immer wieder werden die besten Köpfe bemüht, das Böse in der großen Literatur so zu interpretieren, dass es schlussendlich als das Im-Grunde-Gute dasteht. Was Kleist betrifft, gelingt dies allerdings wenig glaubhaft. Aus seinem Werk kann man die Schrecken der nachkommenden deutschen Geschichte leicht herauslesen.

Heinrich von Kleist bleibt ein berühmter und irrer Cousin, über den man gern erzählt, aber nur wenn die Kinder schon schlafen. Anziehend und widerwärtig, mitleid- und angsteinflößend. Für die Deutschen ist er ein Problem geblieben. Nicht jedoch für die Japaner! Und nicht für mich. Oder doch, ein wenig schon.

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