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Jurjews Klassiker: Glückssäckel und Zauberhütchen

"Fortunatus" ist nicht nur als eins der wichtigsten deutschen Volksbücher erinnernswert: Zusammen mit "Till Eulenspiegel" und "Reineke Fuchs" hat es in der europäischen Kultur eine tiefe Spur hinterlassen.

Das Buch erschien vor 500 Jahren in „der kayserlichen stat Augspurg“ und erzählt von drei Generationen einer Patrizierfamilie auf Zypern. Wer den „Fortunatus“ verfasst hat, ist unbekannt geblieben, allein der Name des Druckauftraggebers Johannßen Heybler, eines „Appotegkers“ ist überliefert. Der Vater der Patrizierfamilie, Theodorus, bringt das gesamte Familienvermögen durch, indem er unstandesgemäß als Adliger auftritt – jagt, tafelt und sich duelliert (ohne dabei die Vermögensgrundlage der Adelsklasse zu besitzen: die Ländereien). Sein Sohn Fortunatus ist gezwungen, in Diensten eines Grafen Zypern zu verlassen und in die weite Welt zu ziehen. Seine und seiner beiden Söhne Abenteuer sind der Stoff des Buchs.

„Fortunatus“ ist nicht nur als eins der wichtigsten deutschen Volksbücher erinnernswert: Zusammen mit „Till Eulenspiegel“ und „Reineke Fuchs“ hat es in der europäischen Kultur eine tiefe Spur hinterlassen. Es ist auch ein Vorbote der literarischen Revolution, welche die Ablösung des Verses durch die Prosa als Erzählinstrument einleitete. Doch das berühmte „Fortunati Glückssäckel“ macht es nicht nur für die Germanisten interessant, sondern für alle, die Geld bekommen und Geld ausgeben.

Fortunatus wird zum richtigen, ja zum eigentlichen Fortunatus erst, nachdem er Fortuna trifft, die „junckfraw des glücks“, die ihm mehrere Gaben zur Wahl auftischt: Weisheit, langes Leben und Reichtum. Fortunatus wählt – gegen alle im Mittelalter gängigen Vorstellungen und Werte – das Letztere. Er meint anscheinend, dass man mit Geld auch eine gute medizinische Versorgung und damit ein langes Leben und auch eine gute Bildung und Beratung und damit die Weisheit kaufen kann (aus heutiger Sicht nicht unbegründet). Und er bekommt ein „Glückssäckel“, in dem immer Geld liegt, praktischerweise in der Währung des Landes, in dem sich der Säckelbesitzer aufhält. Eine Goldene Kreditkarte, würden wir heute sagen. Später bekommt Fortunatus auch ein Zauberhütchen dazu, das ihn an jeden Ort der Welt befördern kann.

Die Wahl, die Fortunatus getroffen hat, ist im Prinzip der Weg, den um die Zeit der Entstehung des Buchs ganz Europa eingeschlagen hatte – der Weg des Geldes und der Fortbewegung, der Weg aus dem Mittelalter in die Neuzeit und weiter zu den heutigen Zuständen, die sich erstaunlich gut mit „Fortunati Glückssäckel“ und „Zauberhütchen“ als Sinnbildern beschreiben lassen. Zum Beispiel die Finanzbeziehungen auf allen Ebenen: eines einzelnen Bürgers zu seiner Bank, einer Firma oder gar einer Industrie zu ihren Geldgebern und Teilhabern, einer Wirtschaft zum Staat (oder von Zeit zu Zeit umgekehrt), eines Staates zur EU.

In diesen Begriffen stellt die heutige Finanzkrise quasi eine Funktionsstörung des „Fortunati Glückssäckels“ dar: Man steckte seine Hand in den Beutel, dieser war jedoch leer. Oder fast leer. Jetzt sitzt man und wartet, bis sich die Zauberkraft des Säckchens wiederhergestellt hat.

Fortunatus selbst benutzt seinen unerschöpflichen Reichtum sehr weise: Er baut seiner Familie einen Palast auf Zypern und heiratet eine Grafentochter, was nicht nur einen sozialen Aufstieg bedeutet, sondern auch eine Revanche für seinen Vater Theodorus. Im Großen und Ganzen ein gutes Leben. Seinen zwei Söhnen – Ampedo, dem Ruhigen, und Andolosia, dem Abenteurer, hat die Fee ebenfalls den Reichtum versprochen, und was machen sie aus ihrem Leben?

Trotz des Zauberbeutels führen sie – in erster Linie durch die Dummheiten des Draufgängers Andalosia, aber auch durch die Feigheit Ampedos – die Familie in den Ruin. Und gehen ruhm- und sinnlos unter: Andolosia wird von Räubern getötet, Ampedo stirbt an seiner Trauer. Ihnen hilft der Geldzauber nicht mehr.

Eben deshalb ist es zu empfehlen, das alte Buch wieder und sehr aufmerksam zu lesen – um einen neuen, unerwarteten Blick auf unsere Zeit zu gewinnen. Die Schicksalsfrage dabei lautet: Sind wir, die postmoderne Gesellschaft, noch mit Fortunatus zu vergleichen, der mit seinen Zaubersachen einigermaßen umzugehen wusste, oder eher mit seinen Söhnen?

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