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Ein sowjetischer Homme de lettres. Iwan Maiski an seinem Londoner Schreibtisch.

© Courtesy of the Voskressenski and Sheffer families

Kampf gegen Hitler: Außenpolitik unter den Augen Stalins

Die Tagebücher des Sowjet-Botschafters IwanMaiski sind eine Sensation.

Am 29. September 1938 fand in München jene Konferenz statt, bei der Hitler die Besetzung des Sudetenlandes zugestanden wurde. So hatte es Hitler gefordert, so hatten die Westmächte Großbritannien und Frankreich eingewilligt. „Chamberlain und Daladier haben vollständig kapituliert“, schrieb tags darauf der sowjetische Botschafter in London, Iwan Maiski, über die beiden Regierungschefs in sein Tagebuch. Und er fuhr fort: „Es ist schwer, die wirkliche Bedeutung dessen, was sich gerade ereignet hat, auf einmal zu erfassen, aber ich spüre und begreife, dass letzte Nacht eine Wegmarke von kolossaler geschichtlicher Bedeutung passiert worden ist.“

„Für die Sowjetunion (...) bedeutete das Münchner Abkommen einen katastrophalen Rückschlag“, erläutert dazu Gabriel Gorodetsky, Historiker der Universität Tel Aviv und Fellow in Oxford. Er hat die Tagebücher Maiskis, der von 1932 bis 1943 in London akkreditiert war, 1993 im Archiv des russischen Außenministeriums entdeckt und in langjähriger Arbeit quellenkritisch überprüft. Jetzt liegt in deutscher Übersetzung die Auswahlausgabe vor, die Gorodetsky auf Grundlage der dreibändigen russischen Gesamtausgabe publiziert hat.

Ein stetiger Aufstieg

In seinen Erläuterungen zitiert Gorodetsky vielfach aus offiziellen Korrespondenzen. So berichtet der britische Botschafter aus Moskau, des sowjetischen Außenministers „Litwinows ,langjährige und unermüdliche Bemühungen, seiner Politik der kollektiven Sicherheit gegen Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen‘, scheinen ins Wasser gefallen zu sein’. Maiski sah sich schweren Vorwürfen ausgesetzt ...“ Dabei war er es, der unermüdlich für eine gemeinsame Abwehrfront gegen Nazi-Deutschland kämpfte.

Iwan Maiski (1884–1975), väterlicherseits von polnisch-jüdischer Herkunft, studierte Geschichte in St.Petersburg, als er sich der revolutionären Sozialdemokratie anschloss und später auf deren rechten Flügel in die Politik einstieg. Erst 1921 wechselte er zu den Bolschewisten und arbeitete bald darauf im Volkskommissariat des Äußeren. Seine Karriere verlief stetig; mit Maxim Litwinow, dem Außenminister ab 1930, teilte er das politische Ziel, ein System der „kollektiven Sicherheit“ gegen Hitler-Deutschland zu schaffen und die Westmächte mit der Sowjetunion vertraglich zu binden.

Die Münchner Konferenz und die Bereitschaft der britischen Regierung Chamberlain, Hitler zur Rettung des Friedens um jeden Preis entgegenzukommen, markiert den Wendepunkt. Fortan bewegte sich Stalin auf Hitler zu, gipfelnd im Pakt vom 23. August 1939, den bereits Litwinows Nachfolger Wjatscheslaw Molotow als Wegbereiter und vehementer Befürworter unterzeichnete.

Ein Tagebuch, eine Seltenheit

Die Innenansicht solcher Wegmarken der Weltgeschichte kennenzulernen, ist der herausragende Ertrag der Edition. Maiskis Tagebuch ist nahezu das einzige eines sowjetischen Amtsträgers, das aus dieser Zeit erhalten ist. Über die Authentizität der Tagebücher ist verschiedentlich spekuliert worden; Gorodetsky betont jedoch, dass es „keinerlei Spuren“ gebe, „dass Maiski jemals seine Eintragungen nachträglich bearbeitete“. Die Tagebücher leben vom stupenden Gedächtnis ihres Autors, der die Besprechungen des Tages noch in der Nacht in direkter Rede festzuhalten verstand und dabei oft, wie Gorodetsky berichtet, in einem Zug zwanzig und mehr Seiten verfasste.

Maiski erkannte vom Beginn seiner Londoner Tätigkeit 1932 an den Aufstieg Hitlers und in dessen Konsequenz den europäischen Krieg, und er suchte mit allen Mitteln der Diplomatie, den Widerstand Großbritanniens zu befördern, den erst Churchill, Premierminister ab Mai 1940, unbeugsam organisierte. Die Appeasement-Politik brachte ihn schier zur Verzweiflung. Interessant allerdings, dass er die Worte von Außenminister Halifax nüchtern festhält, den Maiski nach dem deutschen Einmarsch ins Sudentenland trifft. Er zitiert ihn mit den Worten: „Wir sind der Meinung, dass die Welt heute Zeuge eines Kampfes zwischen zwei Ideologien wird – dem Faschismus und dem Kommunismus. Wir als Engländer unterstützen weder den einen noch den anderen. (...) Im Kampf zwischen den beiden Fronten nehmen wir eine neutrale oder, wenn Sie so wollen, mittlere Position ein. Genau aus diesem Grund werden wir auf dem Festland so oft missverstanden ...“

Britisches Appeasement

Halifax’ Mitverantwortung für die britische Beschwichtigungspolitik steht außer Frage, aber dies sind Worte, die Maiski, der als ehemaliger Menschewik immer das Misstrauen Stalins zu fürchten hatte, ganz neutral festhält. Nur selten stellt er eine ideologisch korrekte Position unter Beweis. „Außerdem ist und bleibt der Klassenhass gegen die UdSSR eine festgefügte Realität“, bemerkt er ausgerechnet zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und des „Großen Terrors“.

Für ihn war die Rechtfertigung der sowjetischen Politik oberstes Gebot, zumal nachdem er den „Großen Terror“ überlebt hatte, der 1937 auch das diplomatische Korps erfasste. „Mindestens 62 Prozent aller ranghohen Diplomaten und Beamten aus der alten Garde des Volkskommissariats“, erläutert Gorodetsky, „wurden ermordet, nur 16 Prozent verblieben auf ihren Posten.“ Lediglich drei Botschafter blieben am Leben; darunter Maiski, weil er Stalin für die Beziehungen zu Großbritannien unersetzlich dünkte. In den Tagebüchern findet sich über den Terror nichts. Es wäre lebensgefährlich gewesen, musste Maiski doch jederzeit mit Überwachung durch Agenten des NKWD rechnen, was in seinen späten Londoner Jahren denn auch eintraf.

Dafür finden sich Belege zuhauf für die Jahre später, in Stalins paranoider Endzeit erhobene Beschuldigung, er habe eine „anglophile Lebensart“ geführt. Maiski, der seine hervorragenden Beziehungen zu Regierung, Opposition und Medien mit kleinen Geschenken von Wodka oder Kaviar wirkungsvoll zu pflegen verstand, tritt dem Leser entgegen als Diplomat alter Schule, der einen großbürgerlichen Lebensstil führte und liebte.

Camouflage. Natürlich hatte Maiski in der Botschaft ein Stalin-Porträt an der Wand.
Camouflage. Natürlich hatte Maiski in der Botschaft ein Stalin-Porträt an der Wand.

© Getty Images

Der Hitler-Stalin-Pakt besiegelt das Ende der Bemühungen um „kollektive Sicherheit“. Der Tagebucheintrag vom 24. August, am Tag nach der raschen Unterzeichnung in Moskau, ist kurz und förmlich. Am 1. September 1939 heißt es dann beinahe erleichtert: „Der Krieg ist also ausgebrochen. Heute hat die Welt die Schwelle zu einer neuen Epoche überschritten. Sie wird daraus in stark veränderter Form hervorgehen.“ In den folgenden Tagen, da Großbritannien in den begonnenen Krieg eintreten muss, bricht sich die Verachtung für die vollständig gescheiterte Appeasement-Politik und ihres Protagonisten Chamberlain ungezügelt Bahn: „Eine weinerliche, gebrochene Stimme. Bittere, deprimierte Gesten. Ein zerrütteter Mensch, ein Wrack.“

Nun muss Maiski die Konsequenz aus dem Hitler-Stalin-Pakt vertreten: die sowjetische Annexion Ostpolens. Er tut es bezeichnenderweise, indem er die sowjetische Note an Polen in indirekter Rede zitiert. Der polnische Staat sei zerfallen, der sowjetisch-polnische Nichtangriffspakt null und nichtig; im östlichen Landesteil „lebten zehn bis elf Millionen Weißrussen und Ukrainer, die vom polnischen Staat und polnischen Großgrundbesitzern unterdrückt würden. Daraus folge: Die Rote Armee werde die polnische Grenze überschreiten (...), um Leben und Eigentum der dortigen Bevölkerung zu schützen.“ Für Großbritannien sieht Maiski – völlig richtig – das Ende seines imperialen Reiches voraus, falsch indessen, dass es „am Ende im ,Sozialismus‘ landen würde. Die Überzeugung, dass der ,Sozialismus‘ das unausweichliche Ergebnis eines großen Krieges wäre, ist inzwischen weitverbreitet – selbst in bürgerlichen Kreisen.“

Blick voraus auf die Nachkriegszeit

Maiski konstatiert die Suche der Briten nach Verbündeten und meint – eher beschönigend –, „langfristig träumen die herrschenden Kreise trotz aller Dementis von einem Bündnis mit der Sowjetunion“. Der Nachsatz, „So sehe ich die Dinge jetzt von meinem ,Londoner Fenster‘ aus“, lässt erkennen, dass Maiski nicht mehr in die Moskauer Politik einbezogen ist. Doch bald sieht der inzwischen abberufene, jedoch bei Verhandlungen wie in Jalta anwesende Maiski wieder klarer als andere. „Die UdSSR und die USA werden die beiden gesellschaftlichen und internationalen Pole der Nachkriegszeit bilden“, hält er im April 1942 fest: „Denn in den USA wird der Kapitalismus unendlich mehr von seiner Lebenskraft bewahrt haben als in England.“ Die Nachkriegszeit werde vom „Wettbewerb zwischen der UdSSR und den USA geprägt sein“.

Nach Stalingrad schreibt er zutreffend: „Die moralische und psychologische Bedeutung Stalingrads ist kolossal. Nie zuvor in der Militärgeschichte ist es vorgekommen, dass eine mächtige Armee, die eine Stadt belagerte, selbst zu einer belagerten Wagenburg wurde und dann der Vernichtung anheimfiel.“

Jubel für Stalin musste sein

Wenig später bejubelt er pflichtschuldigst Stalin: „Welches seltene Glück ist dem sowjetischen Volk zuteil geworden, im Verlauf der letzten 25 Jahre, der entscheidenden Phase in unserer Entwicklung und der Entwicklung der Menschheit als ganzer, gleich zwei solche Führer wie Lenin und Stalin zu haben!“

All das bewahrte Maiski nicht vor Abberufung und Kaltstellung durch den Apparatschik Molotow. Herausgeber Gorodetsky schildert die endgültige, geradezu absurde Rückreise Maiskis in die Sowjetunion über den Nahen Osten, wo er in einem Konvoi aus elf Fahrzeugen unterwegs war. Dass Maiski drei Tage in Palästina verbrachte und dabei mit Ben Gurion und Golda Meir zusammentraf, lange bevor die Palästinafrage in Richtung eines Staates Israel entschieden war, gehört zu den bemerkenswertesten Episoden seines Botschafterlebens.

Ruhestand nach letztem Schrecken

Nachdem Maiski in den letzten Lebensmonaten Stalins fast noch unter die Räder gekommen wäre, dann sich aber durch eine Verkettung unglücklicher Umstände auch danach auf der Anklagebank wiederfand, verbrachte er die beiden letzten Lebensjahrzehnte in Moskau und nach Möglichkeit auf seiner Datscha, wo er seine – wenn überhaupt, nur zensiert erscheinenden – Bücher schrieb. Er starb 91-jährig im Herbst 1975.

„Maiskis lange Dienstzeit in London“ – schließt Gorodetsky – „war und blieb zweifellos seine ,größte Stunde‘ “, Seine Tagebücher sind eine Sensation. Geschrieben in der Zeit des Stalin-Regimes, da private Aufzeichnungen Verhaftung, Lager und Tod bedeuten konnten, gewähren sie einen seltenen Einblick ins Innere der sowjetischen Politik – freilich an einem exponierten Ort und fernab der furchtbaren Realität des Stalin-Reichs.

Die Maiski Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932–1943. Herausgegeben von Gabriel Gorodetsky. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Verlag C.H. Beck, München 2016. 896 S., 34,95 €.

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