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Kolumne: Liebe, ja oder nein

Schön, dass jetzt so viel über Liebe geschrieben wird: Rainer Moritz ruft einen literarischen Trend aus.

Wer im Kulturbetrieb etwas gelten will, muss sich darum bemühen, den Puls der Zeit zu ertasten und zu erkennen, welche geistigen Strömungen uns ins Haus stehen. Es gilt, die Windrichtung zu spüren und daraus tiefsinnige Betrachtungen abzuleiten. Einfach so über Theaterpremieren oder Belletristiknovitäten zu schreiben und den Daumen nach oben oder unten zu halten, das ist zu wenig. Ich selbst bin da anspruchsvoller und folge jenen Kollegen aus dem Feuilleton, die alle naselang erkennen, was die Schriftsteller neuerdings brennend beschäftigt. Plötzlich kehrt dann die Politik in die Gegenwartsliteratur zurück, sind Familienromane angesagt oder wird – eine besonders beliebte, alle zwei Jahre aufgewärmte Erkenntnis – „endlich wieder erzählt“.

Es ist gar nicht so leicht, hier mit sensationell Neuem aufzuwarten. Man muss schon genau hinsehen, um das subkutan Verbindende all der vielen aktuellen Romane und Erzählungen wahrzunehmen. Frühjahr 2008, das sei hier preisgegeben, ist die Zeit der Liebe. Nicht nur bei Christian Wulff, Nicolas Sarkozy oder Sarah Wiener, nein, vor allem in der Literatur. Zum Beispiel in der eiter- und sekretdominierten Form bei Charlotte Roche („Feuchtgebiete“). Oder in der alterspubertären Version bei Martin Walser („Ein liebender Mann“), wo der nicht mehr taufrische Goethe wie ein junges Füllen durch Marienbad hüpft. Oder bei Feridun Zaimoglu („Liebesbrand“), der zeigt, dass selbst in einem Gemeinwesen wie Nienburg an der Weser Multikulti-Leidenschaft glühen kann. Oder bei Sandra Hoffmann („Liebesgut“), wo sich – man kann das Rad ja nicht jeden Tag neu erfinden – eine junge, unverheiratete Frau mit einem alten, verheirateten Mann einlässt.

Schön, dass jetzt so viel über Liebe geschrieben wird. Vielleicht ändert sich dadurch das betrübliche Sexualverhalten der Deutschen. Einer neuen „Brigitte“Studie zufolge sind nur 54 Prozent der jüngeren Frauen an gutem Sex interessiert. Eine erschreckende Zahl, die vermutlich mit Rainer Langhans und den 1968ern zu tun hat. Wie furchtbar es um den erotischen Diskurs in deutschen Betten bestellt ist, enthüllt ein Blick in den Katalog des Edelökoversenders „Grüne Erde“. Dort werden Kissenbezüge angeboten, die einerseits mit „heute“ und andererseits mit „nicht“ bestickt sind – um, so der Anbieter, die „nonverbale Kommunikation“ zu erleichtern und „Missverständnissen in Bezug auf erotische Avancen charmant vorzubeugen“. Was soll man dazu sagen? „Schon neugierig, was der heutige Abend bringt?“, schließt die abtörnende Anpreisung. Darüber sollten alsbald Romane verfasst werden. Auch der Herbst braucht einen Trend.

Rainer Moritz ruft einen literarischen Trend aus

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