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Kurt Drawert: Im neunten Schuldbezirk

Mit Grüßen aus der Hölle: Kurt Drawert erzählt von der untergegangenen DDR.

Der Titel klingt fröhlich: „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“. Adalbert von Chamissos Peter Schlemihl, der seinen Schatten verkaufte, lässt grüßen, aber auch Arthur Rimbaud, für den Ich ein Anderer war. Kurt Drawerts Hauptfigur verbindet beide Elemente in der Figur des Kaspar Hauser: das Schalkhafte und das Gespaltene, das Gewitzte und das sich selbst Entfremdete. Drawert erzählt mit dem Hauser-Stoff die Geschichte der DDR als Allegorie aus dem Schattenreich. Sein Kaspar Hauser ist ein zwergenhaftes Wesen mit Hasenscharte und Klumpfuß – ein schwerversehrtes Subjekt, irgendwo zwischen Alberich und Oskar Matzerath.

Wie sein historisches Vorbild kommt er aus einem Kellerverlies und ist mit einem Holzpferdchen ausgestattet. Doch während der Vorläufer nur einen einzigen Satz sprechen konnte, ist dieser Kaspar aus dem Untergrund der Diktatur ein sprachmächtiges Wesen. Der Roman ist ein einziger Monolog, in dem Kaspar den behandelnden Ärzten und Psychiatern Feuerbach und Daumer – Namen, die der historischen Hauser-Legende entlehnt sind – Bericht erstattet über sein Leben in der „Deutschen D. Republik“.

Dieses untergegangene Land ist in dieser großen Höllenvision wie ein umgekehrter Turm zu Babel in die Erde versenkt. Ganz unten, tief in dem an Dantes Inferno erinnernden „Neunten Schuldbezirk“, sind die Ausgestoßenen untergebracht, die in Schlamm und Finsternis Steine auf ein Fließband schichten müssen. Monotonie, Zwecklosigkeit, vor allem aber das Einverständnis mit dem eigenen Schicksal sind die Bedingungen ihrer Existenz. Namen haben diese Wesen nicht. Nur die Vorgesetzten heißen allesamt „Tutti“. Und dann ist da noch die Frau, die Bobo, Barbara, Babsi oder Bärbel heißt, multiple Persönlichkeit und Spitzel des „Geheimbundes“ in einer oder auch mehreren Personen. Wäre das Leben ohne diese Doppelungen und die Dauerbeobachtung bis ins eigene Bett hinein überhaupt spürbar?

Kaspar arbeitet sich aus der Unterwelt langsam nach oben – als Garderobenwart im Polytechnikum, als Mitarbeiter einer Bibliothek, in der er sogar Giftschrankbücher liest, und schließlich als Schriftsteller, der dieser surrealen Wirklichkeit mit Sprache „zu Leibe rückt“. Das ist wörtlich zu nehmen: Denn einerseits ist Kaspar ganz und gar Körper. Neben seinem Redefluss zeichnet ihn eine sexuelle Dauererregung aus. Andererseits begreift er Sprache als etwas Körperliches: Die Worte werden wie Dinge behandelt. Nicht die Handlung gibt diesem Buch Schwung. Es ist die Sprache selbst, die für Drawert Motor und Kraftstoff in einem ist. Mit Gift und Galle kalauert er sich durch die „Deutsche Dermatologische Republik“, diesen „Arbeiter-und- Frauen-Staat“ mit all seinen „Internistenshops“ und der Parole „Überholen, ohne nachzudenken“. Sehr schön auch die Verballhornung Wolf Biermanns zum Liedermacher „Clausthaler“: Da reicht ein Wort als Charakteristik schon aus.

Drawert, der seit 1996 in Darmstadt lebt, ist bisher vor allem als Lyriker und als Essayist hervorgetreten. Das ist seinem irrlichternden Stil und seiner das Reflexive betonenden Schreibweise anzumerken. Er ist Beobachter und Denker, kein Erzähler. „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ ist sein erster Roman, dem aber der Prosatext „Spiegelland“ aus dem Jahr 1993 vorausging, ein offensichtlich autobiografisches Werk. Drawert berichtete dort über seine DDR-Herkunft, die SED-gläubige Familie und über seine Sprachstörungen: Er zog sich in ein stotterndes Schweigen zurück. Dieses Thema taucht nun verwandelt wieder auf. Der sprachlose Kaspar Hauser hat sich in einen furiosen Redner und Schreiber verwandelt.

Den „Realsozialismus“ stellt er als „Sozialrealismus“ vom Kopf auf die Füße. Einem Land, in dem literarischer „Realismus“ nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben durfte, sondern den Vorstellungen der Herrschenden von der Wirklichkeit entsprechen musste, ist mit realistischen Mitteln eben nicht beizukommen. Deshalb baut Drawert seine Groteske als umgekehrte Höllenfahrt, die aus der Tiefe ans Licht führt. „Das Leben in Schrift zwingen und es damit wesentlich machen“, heißt es am Ende dieser ambitionierten Unternehmung. Wie ein Hund, der seinen Schwanz fangen möchte, will dieser Kaspar Hauser das Denken denken, weiß er doch, dass es eine „große Belastung“ ist, „einen Kopf zu haben und nicht nur eine Birne mit Haaren“.

Bösartiger, funkelnder, geistreicher ist über den Untergang der DDR noch nicht geschrieben worden. Wolfgang Hilbig, Adolf Endler und Franz Kafka, dessen Nadelmaschine aus der Strafkolonie im Text auch eine Rolle spielt, sind wichtige Referenzpunkte. Auch Orwells Negativutopie „1984“ liegt nahe. Dass bei Drawerts Höllenfahrt vieles nur angedeutet wird, liegt in der Natur der Sache. „Ich liebte die Worte am meisten, von denen ich gar nicht wusste, was sie bedeuteten“, gesteht sein Kaspar. Wenig später ergänzt er, „aus einer versteckt gehaltenen Lust am Verschwinden“ zu erzählen und „in der Sprache versinken“ zu wollen „wie in einem Morast“. Da will einer untergehen und doch zugleich aus der Tiefe ans Licht gelangen.

Diese Doppelbewegung und andere Verrenkungen, wahlweise als Slapstick oder als Tragödie, muss man als Leser schon aushalten. Wenn die „Nichterfahrung“, das Sartre’sche „Nichts“, der große „Autonomieschwindel“, das „Wartezeitbewusstsein“ der Existenz und überhaupt die ganze „irre Realität“ zu Sprache werden sollen, kann man nicht erwarten, diesen absurden Wortstrudeln gefahrlos folgen zu können. Man muss sich in sie hineinstürzen und wird, ganz bestimmt, als ein anderer wieder auftauchen.

Kurt Drawert: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Roman. C. H. Beck, München 2008. 318 Seiten, 19,90 €.

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