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Literatur: Labyrinthe aus Sand

Jugoslawiens Auferstehung als kultureller Raum: Eine Begegnung mit dem serbischen Schriftsteller David Albahari

Von Gregor Dotzauer

Nichts Absurderes, als David Albahari ausgerechnet in Zagreb zu treffen. Seine Stadt ist ganz und gar Belgrad, ein Gespinst aus Größenwahn und Kleingeisterei, das man, wie der namenlose Ich-Erzähler von „Ludwig“ erklärt, weder ohne Zerknirschung hinter sich lässt noch auf Dauer aushält. Exakt kartografiert schaut es dem Leser vom Vorsatzpapier des Romans „Die Ohrfeige“ entgegen, und auch literarisch wird es so akkurat vermessen, als könnte man den Protagonisten auf seinen rituellen Spaziergängen ans Ufer der Donau begleiten, in den Bezirk Zemun eintauchen und zwischen Zmaj-Jovina-Straße und Gospodska die Fährte einer geheimnisvollen Frau aufnehmen.

Zugleich gibt es nichts Absurderes, als zu erwarten, dass man Albaharis Welt dort tatsächlich näher käme. Wie schnell würde man sich im phantasmagorischen Geäder der Stadt verirren: Alles, wonach man greifen zu können meint, zerstiebt im nächsten Augenblick schon wieder. Auch er selbst könnte im jalousiengedämpften Spätsommerlicht seines Mietapartments im Herzen von Zagreb nur eine Erscheinung sein: ein schmächtiger, aufmerksamer, zurückgenommener Mann von 61 Jahren, der eine Weile redend vor seine Texte tritt, um gleich wieder in ihnen zu verschwinden. Albaharis Bücher sind Musterbeispiele für ein sich selbst infrage stellendes, dezent durchkreuzendes, metafiktionales Erzählen, dessen realistische, in allen Sinnesfarben aufblühende Details fatamorganahafte Qualitäten haben: wisch und weg.

Gerade aus dieser extremen Künstlichkeit entsteht aber sein besonderes Sensorium für die Wirklichkeit. Götz und Meyer, die Titelfiguren des gleichnamigen Romans, der die serbische Endlösung der Judenfrage im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, sind reine Kopfgeburten. „Ich habe sie nie gesehen, außer in meiner Fantasie“, gesteht ein weiterer von Albaharis Ich-Erzählern und versucht sich dann auszumalen, wie die beiden SS-Unteroffiziere Tag für Tag auf ihrem Weg von Belgrad nach Jajinci Auspuffgase in den Laderaum ihres Lastwagens leiten, ihre menschliche Fracht entsorgen und anschließend ihr bürgerliches Leben genießen. Akribisch recherchiert sind allerdings die historischen Quellen. Erst in der Überlagerung von Erdachtem und Erforschtem bildet sich für Albahari das menschliche Vorstellungsvermögen aus.

Was also spricht, wenn sich bei ihm Fiktion und Nichtfiktion wechselseitig so in die Hände spielen, gegen das kroatische Zagreb? Ist es nicht eines der Paralleluniversen, die man auch durch die Lektüre seiner Bücher betritt? Als er nach dem Krieg der Krajina-Serben gegen die Kroaten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zum ersten Mal wieder nach Zagreb kam, um alte Freunde zu besuchen, traute er sich kaum zum Bäcker zu gehen. Nicht nur, dass Brot auf Kroatisch kruh und auf Serbisch hleb heißt, er fürchtete, an seinem Akzent erkannt zu werden und übte das ungewohnte Wort bis zum Exzess. Doch in der Bäckerei durchschaute ihn die Verkäuferin sofort: „Mein Herr“, sagte sie, „wir haben weder kruh noch hleb.“ Ihr Lächeln sagte ihm jedoch, dass er sich nicht mehr zu verstellen brauchte.

David Albahari muss bei der Erinnerung an solche längst überwundenen Ängste selbst lächeln. Ja, er ist der festen Überzeugung, dass nach dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens allmählich doch wieder ein gemeinsamer kultureller Raum entsteht – auch für die jüngeren Intellektuellen. Er erzählt von einer neuen Zagreber Buchreihe, in der Autoren aus Slowenien, Bosnien und Mazedonien erscheinen und er als Serbe sogar ohne Übersetzungsglossar für die wenigen anderslautenden Wörter.

Das sanfte Dialektkontinuum der südslawischen Sprachen, wie es die Linguisten nennen, hat offenbar über die einstige offizielle Kunstsprache Serbokroatisch gesiegt. „Nur für extrem nationalistisch gesinnte Schriftsteller sind die Türen zu den Nachbarländern noch versperrt. Muharem Bazdulj zum Beispiel, ein ausgezeichneter bosnischer Autor aus Travnik, dem Geburtsort des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric, schreibt für bosnische, kroatische und serbische Zeitungen. Roman Simic hat mich erst vor zwei Jahren zum europäischen Shortstory-Festival nach Zagreb eingeladen, während seine Geschichten und die von Ante Tomic heute auch in Belgrad verlegt werden.“ Und in Tuzla verleihe man seit zehn Jahren einen nach dem muslimisch-serbischen Erzähler Mesa Selimovic benannten Preis für den besten Roman aus dem exjugoslawischen Raum, bei dem er mit seinem jüngsten Buch „Brat“ (Bruder) nominiert sei.

Ein Schönheitsfehler dieses balkanischen Multikulturalismus ist allerdings, dass Albahari selbst nur als Zaungast daran teilnimmt. In Zemun besitzt er zwar noch eine Wohnung, in die gerade sein erwachsener Sohn eingezogen ist. Drei Viertel des Jahres aber lebt er mit seiner Frau im kanadischen Exil, in Calgary.

1994 verließ er, nachdem er im Bosnienkrieg als Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden Jugoslawiens mitgeholfen hatte, die Juden aus Sarajevo zu evakuieren, sein Land. Der Zwang, sich politisch auf eine Seite schlagen zu müssen, widerte ihn an. Aber er kommt immer wieder zurück – im Augenblick aus Opatija, wo sich seit zehn Jahren die Juden aus dem früheren Jugoslawien zu einem großen Kulturfest treffen.

„Mein Vater war ein sehr religiöser Mensch, der sein Leben lang in die Synagoge ging“, sagt Albahari, „kein orthodoxer, aber ein religiöser Jude. Meine Mutter konvertierte erst zum Judentum. Als ich zu schreiben anfing, war meine jüdische Familie das Hauptvehikel, um meine Identität zu finden. Später verlagerte sich mein Schwerpunkt auf Familien im Allgemeinen.“

Mit dem Bedürfnis, sich von seinem Land zu distanzieren, war er kein Einzelfall. Etwa zur gleichen Zeit setzte sich Aleksandar Tisma aus Novi Sad für mehrere Jahre nach Frankreich ab, ehe er 1993 in seiner Heimat starb. Dragan Velikic floh während des Kosovokrieges nach Budapest und Wien, wohin er später als Botschafter ging.

Als Serbien dieses Jahr auf der Leipziger Buchmesse, wo es 2011 als Gastland eingeladen ist, für sich warb, schauten zusammen mit David Albahari nur Auslandsserben, Tote oder tote Auslandsserben von den Plakaten – und als strahlendste Integrationsfigur aller Teilliteraturen der 1989 im Pariser Exil gestorbene Danilo Kis. Die topografische Genauigkeit von Albaharis Romanen, die unablässig um Identität, Heimat und Heimatverlust kreisen, am intensivsten in „Mutterland“, hat wohl auch mit der Sehnsucht zu tun, sich Belgrad aus der Ferne zu vergegenwärtigen.

An der Oberfläche ist die Prosa seiner Romane von einer eingängigen Klarheit: mit sauber gearbeiteten, überschaubaren, rhythmisch präzisen Sätzen. Je länger man sich mit ihr aber einlässt, desto undeutlicher werden die dramaturgischen Konturen. Albahari gesteht, sich manchmal selbst in ihrem absatzlosen, erklärtermaßen von Thomas Bernhard geprägten Dahinfließen zu verlieren: „Mir gefällt die Vorstellung, dass der Leser Seite an Seite mit dem Autor die Bedeutung des Geschriebenen wiederherstellt. Ich sehe meinen Text als ein Labyrinth. Er führt den Leser an der Nase herum, indem er ihm weismacht, dass er sich geradeaus bewegt. In Wahrheit bewegt er sich kreisförmig voran.“

Das gilt auch für „Ludwig“: die Suada eines Belgrader Schriftstellers, der sich von einem Kollegen und ehemaligen Freund, dem Ludwig des Titels, um seine besten Ideen und seinen Ruhm betrogen wähnt. Immer bedrohlicher schaukeln sich die Klagewellen auf, als müssten sie gleich brechen, um dann doch nur einen winzigen Hinweis nach dem anderen zu liefern, dass hier etwas nicht stimmt.

„Ludwig“ ist ein vielfach verschlungener Versuch über Genie, Originalität und Paranoia, in dessen Motivwelt bald auch eine Waffe der Marke Ludwig hineinfindet und der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein. Eine Rolle spielt auch das Trugbild eines idealen Buches, von dem Albahari weiß, dass es gar nicht existieren kann: „Mir würde es schon gefallen, wenn es ein Buch gäbe, das außerhalb der Zeit gelesen werden könnte. Aber jedes Buch, nicht nur Jorge Luis Borges’ ,Sandbuch’ ist ein Buch aus Sand. Man kann es nicht zweimal an derselben Stelle als dieselbe Person aufschlagen.“

Verglichen mit den autobiografisch getriebenen Erkundungen von „Mutterland“ oder der hypnotischen Insistenz, mit der „Die Ohrfeige“ die dunklen Machtnetzwerke Ex-Jugoslawiens zu durchdringen sucht, ist „Ludwig“ eine Fingerübung. Doch die Vorstellung, man könnte Albaharis Bücher in Haupt- und Nebenwerke unterteilen, führt nicht weit: „Meine sogenannte serbische Phase war fragmentarischer, es gibt einige Kurzromane, die von A bis Z in einer zerbrochenen Form geschrieben sind. Aber auch die Ein-Absatz-Romane, die ich seit 15 Jahren schreibe, sind Fragmente, nur eben riesige Fragmente.“

Zum Abschied ein scheuer Nachsatz: „Auch in Gesprächen bin ich manchmal versucht, meine Antworten in Geschichten zu verwandeln. Aber machen Sie sich keine Sorgen, es waren keine Geschichten dabei – außer alles war eine Geschichte.“ Wer soll das jetzt entscheiden?

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