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Literatur: Land der Schatten

Nahkampf: Jáchym Topols Roman „Zirkuszone“

Seinen richtigen Namen kennt er nicht. Er weiß nur: „Sie nannten mich Ilja.“ Die Eltern haben ihn angeblich auf der Flucht aus Böhmen am Straßenrand liegen gelassen, samt seinem kleinen Bruder Bobo. Ilja und Bobo leben jetzt im „Heimdaheim“, einem Waisenhaus irgendwo auf dem Lande westlich von Prag. Die Kinder dort sind in „Nachthemden“ und „Turnhosen“ unterteilt. Mit seinen zwölf Jahren steht Ilja zwischen beiden Gruppen. Und doch haben sie etwas gemeinsam: Für alle außerhalb des Heims sind sie schlicht „die Geächteten“.

Die katholischen Schwestern, die das Heim leiten, führen ein strenges Regiment. Wer beim Lügen erwischt wird, muss Wasser mit Teerseife gurgeln. Die Kinder vergeben sich auch untereinander nichts: Bobo wird einmal von ein paar Älteren in eine schleudernde Wäschetrommel geworfen. Eines Tages stehen Soldaten vor der Tür. Es heißt, draußen sei ein kommunistischer Aufstand. Die Schwestern werden im Lastwagen abtransportiert. Traurig sehen die Kinder den winkenden Händen nach. Oder können die Nachthemden und Turnhosen jetzt endlich ihren Traum verwirklichen: abhauen und zur Fremdenlegion gehen? Ein Mann stellt sich als neuer „Kommandant“ des Heims vor. Er verspricht ein neues Leben – doch es bleibt das alte.

Iljas Kinderstimme schildert die Traumatisierungen: „Ich hatte meine Leute im Schattenland. Sie waren ohne Gesichter. Ich hatte gelernt, sie zu besuchen. Das ging mit Bewegungen. Ich schaukelte vor und zurück, und das Schattenland kam über mich.“ Sein Hospitalismus, Folge totaler Vernachlässigung, bessert sich, als Hanka ihn besuchen darf. Ihre Umarmungen – Iljas einzige Erfahrungen menschlicher Zuneigung. Doch wird auch dies bald unterbunden: Die Soldaten verbieten Mädchen den Zutritt zum Heim.

Die erzählte Zeit dieser Düsternis und Kälte wirkt angehalten wie in einem Albtraum. Historisch sind es die Jahre nach 1945. Fluchtpunkt und Schauplatz des Buches ist indes der Sommer 1968. Jene Tage, in denen das tschechische Volk für politische Freiheit auf die Straße ging und von den Panzern der WarschauerPakt-Staaten niedergemacht wurde. Diesem Trauma widmete sich schon Topols Roman „Nachtarbeit“ (2004). Den 1962 geborenen Autor beschäftigt der Blick auf eine verlorene Generation: die Eltern von der Gewalt der Zeitläufte verstümmelt, sie selbst zu jung für festen Stand und Richtungssinn und zudem überlastet mit der Sorge für die Nächsten: wie etwa Bobo, der vor Iljas Augen durchs geschlossene Fenster in den Tod stürzt.

Topol erspürt Bewegungen im Untergrund mit einem Vermögen, das zugleich seine Ausbrüche ins Fantastische speist. Seine Leser kennen das aus Büchern wie „Engel EXIT“ (1997) und vor allem „Die Schwester“ (1998). Reales und Groteskes erzählerisch ineinander zu blenden, geht diesem eminent begabten Autor so leicht und fesselnd von der Hand, dass es bisweilen die Genauigkeit gefährdet. Neu ist Topols Sinn für Ironie und Humor, den seine jüngsten Bücher zeigen.

So verbringt Ilja gut die Hälfte des Romans als Dolmetscher bei einer sowjetischen Panzereinheit. Diese ist mit einem Sonderauftrag unterwegs. Sie liest Giraffen und Kamele auf, integriert einen Zwerg aus der DDR in ihre Reihen, hütet ein in Wolfsfell gebettetes Dinosaurierei. Alles ist Teil des Projekts „Sozialistischer Zirkus“, der als „Vorhut des kulturellen Teils der Menschheit“ selbige von den „allerhumansten Dressurformen“ überzeugen soll. Freilich ermordet die Panzereinheit unschuldige Zivilisten und brennt Dörfer nieder. Schwarzer Humor eben.

Selbst die Tollheiten der „Zirkuszone“ lassen keinen Zweifel, dass dies ein politisches Buch ist. „Ich wurde geschmiedet auf dem Amboss des zwanzigsten Jahrhunderts“, brüllt der Kommandant den Heimkindern entgegen: „Und jetzt bin ich gerüstet, euch für die neue Zeit zu erziehen.“ Was er tatsächlich tut: Er drillt eine Armee von Kindersoldaten. Ilja wird zum Diversanten ausgebildet, erlernt Nahkampftechniken, tötet ohne Empfindung.

Orientierungslos kämpft der Zwölfjährige mal auf dieser, mal auf jener Frontseite, beobachtet den alltäglichen sexuellen Missbrauch durch die Kommandanten, schläft nachts mit der Schnapsflasche im Arm ein. Einmal sagt er: „Mit der Gewalt leben bedeutet, dass jeder beliebige Augenblick normalen Lebens jederzeit in Gewalt umschlagen kann, die mit dem Leben Schluss macht.“

Wie Ilja ergeht es heute Hunderttausenden von Kindersoldaten vom Kongo bis nach Kolumbien. „Wenn sie in ihren Fantasieuniformen, wild um sich schießend, durch die Straßen rennen, mutet das an wie ein Karneval des Todes“, war kürzlich in einem Bericht über Liberia zu lesen – als handle er von Topols „Zirkuszone“.

Jáchym Topol:

Zirkuszone. Roman. Aus dem Tschechischen von Milena Oda und Andreas Tretner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007. 316 S., 24,80 €.

Thomas Wild

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