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Literatur: Leben ohne Plot

Eine Frau, zwei Ichs und ein Roman: „Die Namenlose“ von Jagoda Marinic

Sie war weggegangen. An dem Tag, an dem sie ihre Mutter nicht mehr Mutter nannte. Am selben Tag noch erreichte sie Berlin: „Hochglanzbilder, Sprechapparate, Kostümbälle, Plakatrausch, Neonröhren, Werbebanner, Bildschirme in Straßenbahnen für die unnötigsten Bedürfnisse.“ Vor einem Jahrzehnt war das, jetzt lebt sie hier als junge, gut aussehende, aber stille und einsame Bibliothekarin – sie musste „all das Bedürfen, Bedürftigsein und Bedürfnissehaben abschaffen“. Sie hat sich mit der Stadt arrangiert und scheitert zugleich an ihr.

Ein bekannter Stoff. „Berliner Roman“ nannte Max Kretzer 1885 einen Prosatypus, der sich der Stadt in dem Bewusstsein zuwendet, als gelte es eine realistische, nicht am Schreibtisch konstruierte Kunst zu ergründen, basierend auf Studien des „wirklichen Lebens“. In den 1920er Jahren kennzeichnete dieser Typus die Literatur der „Neuen Sachlichkeit“ und deren Vertreter von Erich Kästner bis Joseph Roth. Dass dabei eine weibliche Figur, zumal eine „Neue Frau“, im Zentrum steht, hat Irmgard Keun in vielen Varianten erzählt. Stakkato-Technik und filmische Schreibweisen, reportagenhafte Passagen und genauer Blick – all das findet sich auch in Jagoda Marinic’ Romandebüt „Die Namenlose“: „Regen. Deutscher Regen. Grau. Berliner Grau. Sonne nur als Grell durch Wolken sichtbar. Buchverlage. Ärztehäuser. 030-230 295 30: Büros zu vermieten.“

Marinic’ Buch ist weder so monochrom noch eindeutig, wie diese knappe Einordnung suggeriert. Zwar schreibt sie filmisch. Zwar ist ihr Motiv der einsamen jungen Frau in der großen Stadt nicht neu. Zwar zieht sich viel Selbstverlorenheit durch die Existenz ihrer Protagonistin. Darunter aber legt die 1977 in Waiblingen geborene Marinic ein lautes intertextuelles Hintergrundrauschen, durch das nicht allein die Literatur der Weimarer Republik oszilliert. Anleihen an die literaturhistorische Tradition des „Großstadtromans“ verschwimmen plötzlich, verwischen und geben eine Welt von unheimlicher Tönung frei.

Eine Welt in der Nacht; eine zweite Stimme; ein zweites Ich, das versucht, mit dem anderen der Protagonistin in Kontakt zu treten und deren Schmerz abzutun; eine Schreib-Welt, in der die Sehnsucht nach „einer Geschichte“ dominiert sowie die Hoffnung, durch eine solche wiederum die Seele zu heilen.

Das klingt nach romantischer Ich-Dissoziation, nach Ich-Verlust und Ich-Zerfall. Das ist auch ein bisschen Kafka und – mit Paul Klee gesprochen – sehr E.T.A. Hoffmanesk. Das Tag-Ich, das als „die Namenlose“ auftritt und jeden Morgen in einer Berliner WG aufs Neue sein Leben „anziehen“ muss, das in einer Bibliothek arbeitet und dort nach Ordnung sucht, tritt einem Nacht-Ich gegenüber, das wieder Zugang zum Tag erlangen möchte. Ein Doppelgängermotiv. Wenn man sich fragt, was beide Ebenen miteinander verbindet, die das Buch ebenso charakterisieren wie das Erzählte selbst, scheint die Antwort leicht: Sie erzählen, dass Enttäuschungen des Lebens und der Liebe stumpf und stumm machen. „Ja, es gibt mich schon lang“, sagt die Geschichte, „es gibt mich, seit sie ihren Namen verloren hat.“ Diese Geschichte personifiziert Marinic von Anfang an und stellt sie auch im Schriftbild hervor: als Fußnoten in anderer Schriftart, dorthin „vom Schmerz“ verbannt und munter vor sich hin parlierend, kommentierend, bisweilen auch penetrant. So gleitet ihr Roman „von Welt zu Welt“, „von Traum zu Traum“, von stupidem Tag-Dasein zu pathetischer Text-Existenz in der Nacht.

Einmal fachsimpeln zwei Damen in der Arbeitsstelle der Namenlosen über gute und schlechte Bücher und konstatieren, allein die Handlung zähle. Marinic’ Heldin aber plädiert für ein „plotfreies Leben“. Schließlich passiert auch bei Marinic nicht viel. Doch ist es erstaunlich, dass ein Text von 155 Seiten so viele Anspielungen, Reflektionen und Tableaus anzubieten vermag. Dass man unweigerlich an eine „Fallhöhe“ denkt und um den „Absturz“ des Buches fürchtet, was keineswegs „Missraten“ meint; sind es doch große Traditionen, die Marinic ein „Polaroid der Wirklichkeit“ verfassen lassen. Dies vor der literaturhistorischen Folie des frühen 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu tun und dennoch „nur“ von unserer alltäglichen Gegenwart zu erzählen, ist eine der Leistungen dieses Romans.

Jagoda Marinic: Die Namenlose. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2007. 168 Seiten, 16.90 €.

Oliver Ruf

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