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Leipziger Buchmesse: Die Kroaten kommen

Was für ein raffiniertes Monstrum von einem Roman! 600 eng bedruckte Seiten, Figuren, die durch das zwanzigste Jahrhundert hindurch ihr kleines Glück suchen und nur Vergewaltigung, Mord, Verrat, Armut und Einsamkeit finden. Miljenko Jergovićs Roman "Das Walnusshaus".

Es beginnt in einer kroatischen Stadt im Jahr 1905, wo eine Familie auf die Geburt eines Mädchens wartet, und endet im Jahr 2002 in einer kroatischen Stadt, wo eben dieses Mädchen als verrückt gewordene 97-jährige Frau namens Regina Sikirić an einer Überdosis Beruhigungsmittel stirbt, was den behandelnden Arzt eine Anklage wegen Mordes einbringt. Das ist zwar eine andere Geschichte, aber Miljenko Jergović, der 41-jährige Autor dieses ungeheuerlichen Buches, erzählt sie alle: Alle Geschichten, die nah oder fern mit Regina Sikirić zu tun haben und also Teil eines über Generationen wütenden kollektiven Schuldzusammenhangs sind.

Monströs ist dieses Buch, weil es anhand einer weitverzweigten Familie das komplexe Drama Jugoslawiens mit seinen zahlreichen Kriegen erzählen und dabei mit herkuleischem Größenwahn keinen einzigen Konflikt auslassen will. „Denn hierzulande merkt man sich über Epochen hinweg, aus welchen Familien die Verrückten stammen; die Erinnerung an ein debiles Kind wird wachgehalten; man vergisst nicht, wessen Bruder eine Vierzehnjährige vergewaltigt und den Leichnam in eine Höhle geworfen hat.“

Gegen das Nichtverzeihenkönnen einer Gesellschaft, in der das Gedenken der Toten mit übler Nachrede und geifernder Denunziation eine ungute Mischung eingeht, setzt Jergović auf urteilsfreie Erinnerung. Jedem Opfer des Küchenklatsches soll die Würde zurückgegeben werden, in dem es einen Platz in der Erzählung findet.

Raffiniert ist „Das Walnusshaus“ aber, weil es die Verrücktheit der Hauptfigur und des Jahrhunderts auf die Form des Romans überträgt. Er beginnt mit dem Ende, also in der Gegenwart, und endet mit dem Anfang – und stellt damit auch die Vorstellung von Entwicklung, die jede herkömmlich erzählte Geschichte unausgesprochen mit sich führt, auf den Kopf. Statt Fortschritt und Erfüllung, sagt die Struktur des Romans, gibt es Unglück und Scheitern.

Miljenko Jergović, 1966 in Sarajevo geboren, schrieb schon als Jugendlicher kulturpolitische Kolumnen für diverse Medien. In den neunziger Jahren veröffentlichte er Erzählbände, unter anderem „Mama Leone“, in dem es viel um das plötzliche Verschwinden von Figuren geht: der Großvater, der Großonkel und schließlich die Mutter. Plötzlich sind sie weg, und kein Mensch verliert ein Wort, als sei das Schweigen die selbstverständliche Begleiterscheinung des Todes.

In Deutschland wurde Jergović mit seinem Roman „Buick Rivera“ bekannt, der den satirischen Fabulierer Jergović zeigt. Im amerikanischen Exil trifft ein bosnischer Serbe auf einen bosnischen Muslim. Der eine ist dem Krieg entflohen, der andere taucht, nachdem er seinen Hass ausgelebt hat, in Amerika unter. Die Versöhnung des Unversöhnlichen findet auf literarischer Ebene statt, in Form der Groteske. Die Farce macht die Ungeheuerlichkeit des Geschehens handhabbar und enthält gleichzeitig die Gefahr der Verniedlichung.

Ähnlich geht Jergović in „Das Walnusshaus“ vor. Doch wie erzählt sich ein Roman von hinten nach vorn? Er springt mit jedem Kapitel zwei Schritte zurück und bewegt sich innerhalb einer Episode dann vorwärts. Als Tarnung trägt jedes Kapitel das Kleid der skurrilen Anekdote. Die Erzählweise bringt es mit sich, dass man darin schnell das Knochenklappern eines menschlichen Skeletts hört. Denn entweder kommt die Figur in der Episode selbst um oder sie verschwindet, weil sie im folgenden Abschnitt noch nicht geboren war – wie Mirna, die Enkelin Reginas, die ein Martyrium der Scham zu erleiden hat, weil ihr nur eine Brust wächst, die auch noch riesig ist. Wie es mit ihr weitergeht, erfährt man nicht, denn im nächsten Abschnitt stirbt ihr Vater Vid bei einem Verkehrsunfall, an dem Tag, an dem auch Tito stirbt und Mirna mit ihrem Zwillingsbruder noch im Bauch ihrer Mutter Diana weilt.

Jergović ist ein begnadeter Erzähler, der schicksalshafte Momente emotional aufzuladen vermag, ohne ins Pathos abzugleiten, und ein weiser Clown, der in virtuosen Übergängen die Biografien vernetzt und die latente Enttäuschung des Lesers, die das literarische Verfahren zwangsläufig produziert, durch rührende Szenen, absurde Wendungen und einen mitreißenden Einfallsreichtum wettmacht. Auch wenn er die Lebensläufe vollständig erzählt – im Strom des rückwärtsgerichteten Handlungsverlaufs haftet jeder Figur automatisch etwas Verstümmeltes und unendlich Trauriges an.

Stalins Tod, der Einmarsch der Nazis in Paris, die Kämpfe in der Herzegowina. Jergovik hangelt sich mit der Familiengeschichte an historischen Wendepunkten entlang. Nachdem in den ersten Kapiteln Reginas Tochter Diana im Zentrum steht, dann von Reginas Seefahrer-Ehemann erzählt wird, tauchen zur Mitte des Romans ihre Brüder Dovani und Duzepe auf. Die Passagen, in denen die beiden im Zweiten Weltkrieg bei Partisanengruppen landen, und – eben noch Bohemien in Paris oder Kneipenbesitzer – an grausigen Massakern der Tschetniks teilnehmen, gehören in ihrer lapidaren Eindringlichkeit zu den Höhepunkten des Buches.

Dagegen bleibt Regina, eine zeitlebens fluchende Furie, blass. Erst gegen Ende, als von ihrer Liebe zu ihrem Vater erzählt wird, klärt sich, weshalb sie sich so lange hinter der Maske der Obszönität verkrochen hat. Die letzte bittere Offenbarung des Romans bezieht sich auf den Titel. „Das Walnusshaus“ ist ein Geschenk, das Reginas Großvater zu ihrer Geburt hat anfertigen lassen. Ein Zukunftshaus, das nach den Plänen von Adolf Froose geschnitzt wurde, der sich um 1900 ausgemalt hat, wie die Menschen im Jahre 1950 leben würden – dann wenn der „kulturelle Fortschritt der Zivilisation“ den Menschen auf ein „höheres Niveau der Humanität“ geführt haben würde.

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