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Literatur: Bomben und Bonzen

Ein Mann, der Kontakt mit Toten aufnimmt und Terroristen treffen aufeinander. Andrej Wolos erzählt Schräges aus Moskau.

Seit fast 200 Jahren ist der Kaukasus Russlands Hass- und Schmerzregion: Aufstände wechselten mit Strafexpeditionen, Kriegszüge mit Attentaten. Und je größer die Wut aufseiten der Bergvölker wurde, desto verbissener und grausamer reagierten die russischen Besatzer. Andrej Wolos wurde 1955 mitten in dieses Krisengebiet hineingeboren: Er wuchs in Tadschikistans Hauptstadt Dushanbe (damals Stalinobod) auf und arbeitete zunächst als Geophysiker; heute lebt er als Schriftsteller in Moskau.

Der unscheinbare, 43-jährige Sergej Barnim ist die Hauptfigur in Andrej Wolos neuem Roman „Der Animator“; und er ist ein Star: Keiner kann sich so wie er in das Leben von Verstorbenen einfühlen. Ihr Seelenlicht, das er in einem spiritistischen Akt erzeugt, strahlt in seinem Glaskolben unübertroffen. Der Roman spielt im Russland einer nahen Zukunft, und alles ist noch so schwierig, wie es während und nach dem Zerfall der Sowjetunion war. Im Kaukasus herrscht Krieg, und der ist, wenn auch formell beendet, in Moskau angekommen: in Gestalt von Anschlägen tschetschenischer Terroristen und durch Klagen der Toten in Barnims Kopf andererseits. Barnim ist der Prototyp des besessenen Erzählers, der das Leben seiner Klienten neu erfindet. Barnims Gabe ist begehrt, auch der Geheimdienst will ihn anwerben, um die Motive der Attentäter auszuforschen; doch er kann keine Lebenden animieren – das kann nur der Roman, der dafür seine innere Logik durchbricht und von Salih, dem kindlichen Selbstmordattentäter erzählt, der nicht weiß, was Gefühle sind; und von Mamed, der bei der Erstürmung eines Moskauer Theaters das Paradies findet.

Spätestens hier gibt sich der Realismus der früheren Kapitel als ironisches Spiel zu erkennen. Denn die Geiselnahme hat 2002 tatsächlich stattgefunden, erscheint allerdings ironisch verrutscht: Die Terroristen wissen, dass der Geheimdienst ihren Plan kennt und steuern hohnlachend ein anderes Theater an. Erst durch den historischen Hintergrund wird das Ganze zu einer beklemmenden Science-Fiction-Geschichte: Die Mächtigen berauschen sich an ihrer Ideologie, während die Verzweifelten sich ihre Gegenwirklichkeit als goldenen Schuss setzen.

Andrej Wolos:  Der Animator. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Hanser Verlag, München 2007. 288 S., 21,50 €.

Nicole Henneberg

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