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Literatur: Die weibliche Zone

Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen erzählt eine „Kulturgeschichte der Nacht“. Mit historischen Realien hält sich Bronfen nicht auf.

Die in Zürich lehrende Anglistin Elisabeth Bronfen ist 1992 durch die Studie „Nur über ihre Leiche“ bekannt geworden. Darin untersucht sie die Figur des weiblichen Opfers in Literatur, Oper und Kino. Jetzt hat sie ein über 600-seitiges Werk vorgelegt, das sie nach eigenem Bekunden 14 Jahre lang beschäftigt hat. Sein Titel „Tiefer als der Tag gedacht“ ist Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ entnommen – und verspricht eine „Kulturgeschichte der Nacht“.

Wer freilich erwartet, etwas über nächtliche Rituale, den Beruf des Nachtwächters, die Geschichte der Straßenbeleuchtung oder der Nachtarbeit zu erfahren, wird enttäuscht. Mit solchen kulturgeschichtlichen Realien hält sich Bronfen nicht lange auf. Sie fragt vielmehr, wie die Nacht in Mythos, Philosophie, Literatur, Oper und Film zum Thema gemacht wird. Dabei ist der Zeitraum, dem sie ihre Belege entnimmt, enger, als der vollmundige Untertitel verheißt: Abgesehen von einigen Ausflügen in die griechische Mythologie und die Renaissance sind es die knapp 200 Jahre zwischen 1790 und 1960, die den zeitlichen Rahmen der Studie abstecken.

Nun wäre es vermessen, enzyklopädische Vollständigkeit zu verlangen. Aber wenn man weiß, dass sie Germanistik und Anglistik studiert hat, wundert man sich nicht mehr, dass ihre Beispiele überwiegend aus dem deutschen und angelsächsischen Kulturkreis stammen, während beispielsweise die romanischen Literaturen bis auf wenige Ausnahmen fehlen. Das Buch setzt ein mit der „Zauberflöte“, mit der Vertreibung der Königin der Nacht aus Sarastros aufgeklärter Welt des Tages und des Lichts. Mozarts Oper verhilft Bronfen zu zwei zentralen Thesen, die im weiteren Verlauf ihrer Studie in immer neuen Varianten durchgespielt werden.

Die erste These stammt aus Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“. Wenn Sarastro am Schluss der „Zauberflöte“ sein „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, zernichten der Heuchler erschlichene Macht“ proklamiert, dann inszeniert die Oper, so Bronfen, „jene fundamentale Ambivalenz der Aufklärung, nach der ein als ewige Nacht konzipiertes Draußen erzeugt wird, damit sich an dessen Ausblendung ein universales Gesetz der Vernunft durchsetzen kann“. Die Nacht repräsentiert also das andere der Vernunft, jenen dunklen Grund, aus dem diese hervorgegangen ist und in den sie wieder zurückkehrt. Die zweite These schließt sich hier an: Es sind die Frauen, die diesem nächtlichen anderen aufgeschlossener gegenüberstehen als die Männer und es deshalb auch besser in die Welt des Tages integrieren können.

Neben Adorno und Horkheimer sind es vor allem die Theoretiker der französischen Postmoderne, die Bronfen das Rüstzeug ihrer Erkundungen liefern. Mit Michel Foucault deutet sie die Nacht als „Heterotopie“, mit Cornelius Castoriadis als „kulturelles Imaginäres“, mit Georges Bataille als Zone der „Überschreitung“, und aus der Ethnologie übernimmt sie den Gedanken, der Gang durch die Nacht sei eine „rite de passage“, die einem zu einem neuen Tagesbewusstsein verhelfe.

Es geht also um jenes Stück Nacht, das laut Foucault jeder aufgeklärte Mensch in sich trägt. Und diese Nacht, in der die Welt des Tages ihren Ursprung hat, spürt Bronfen in den antiken und christlichen Kosmogonien auf, in Shakespeares „Sommernachtstraum“, in der Liebesnacht von Romeo und Julia wie von Tristan und Isolde, in Hegels „Nacht der Welt“, in den Nachtstücken der Romantiker, in Freuds Erkundungen der Welt der Träume, bei den flanierenden Nachtschwärmern der modernen Großstädte, im Film noir und in Célines „Reise ans Ende der Nacht“.

Das hört sich vielversprechend an, aber man ist dann doch froh, wenn man nach diesem „Walk on the dark side“ das Ende der Nacht erreicht. Hat man Bronfens Generalthese einmal begriffen, dann ist absehbar, wie sie auf das jeweils neue Beispiel angewendet werden wird. Man stößt auf diesen 600 Seiten auf endlose Variationen der immer gleichen Grundformeln. Hinzu kommt, dass die Autorin die Werke, die sie bespricht, erst einmal ausführlich nacherzählt, was bei kanonisierten Texten wie Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Goethes „Wahlverwandtschaften“ überflüssig ist. Wäre das Buch halb so umfangreich, man würde es mit mehr Gewinn lesen.

Mit den amerikanischen Filmen der schwarzen Serie aus den vierziger und fünfziger Jahren, denen die Autorin ein eigenes Kapitel widmet, mag es sich anders verhalten; hier ist es legitim, die Leser zunächst einmal mit der Handlung bekannt zu machen, weil die Klassiker des Film noir heute nur noch Cineasten ein Begriff sind. Bronfens Einbeziehung des Kinos in ihr kulturgeschichtliches Panorama ist freilich nicht unproblematisch. Der Filmkritiker Georg Seeßlen hat ihr einmal mit Recht vorgehalten, sie lese Filme, als ob sie Bücher wären, und verfehle damit den spezifischen Charakter dieses Mediums. Es fragt sich nämlich, ob man den Film oder auch die musikalische Form der Oper mit Derridas Theorie der Schrift zureichend bestimmt.

Dabei spielt gerade das Kino in ihrer Argumentation eine zentrale Rolle. Denn es ermöglicht einerseits jenes zeitlich begrenzte Eintauchen in den dunklen Raum, das für alle in ihrem Buch untersuchten Nachtreisen charakteristisch ist, entlässt den Kinogänger am Ende aber wieder in die Helle des Tages. Die Kunst – so die Autorin – wird zwar aus der Nacht geboren, aber als Schrift befindet sie sich immer schon jenseits der Nacht. Sie ist eine „ethische Entscheidung für den Tag“.

Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. Carl Hanser Verlag, München 2008. 640 Seiten, 29,90 €.

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