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Literatur: Erlösung über den Wolken

Die Fliegerin, der Invalidenfriedhof und die Liebe: ein Besuch bei dem Schriftsteller Uwe Timm.

Uwe Timm ist ein Schriftsteller, der einen sympathisch gelassenen, ausgeglichenen Eindruck macht. Das konnte man erst vor kurzem in einem etwas liebedienerischen Filmporträt sehen, in dem Timm mehr als einmal als glücklich verheirateter Mann und vierfacher Vater in einem harmonischen familiären Umfeld zu sehen war. Und das zeigt sich bei einem Besuch bei ihm in München, wo er durchaus sinnfällig in einem Haus an der Ecke Paradies-, Himmelreichstraße wohnt, mit Blick auf den Englischen Garten.

In weinrotem Lacoste-T-Shirt und beiger Hose sitzt Timm in seinem Arbeitszimmer und hört sich aufmerksam und freundlich blickend an, was der Besuch über seinen neuen Roman „Halbschatten“ so zu sagen hat. Dass dieser Roman über die junge Fliegerin Marga von Etzdorf etwa manche Lektüreschwierigkeit verursacht habe, eher den versierten literarischen Arrangeur als den passionierten Erzähler Timm zeige und er wie so viele deutsche Romane zuletzt eine gewisse Geschichtsversessenheit aufweise.

Und dann schickt Timm zunächst vorweg, dass er mit jedweder Art von Kritik tatsächlich relativ entspannt umgehe. Gelernt hätte er das seit einem gnadenlosen Verriss seines ersten Romans „Heißer Sommer“ in der „Süddeutschen Zeitung“ Mitte der siebziger Jahre: „Zwei Tage später traf ich den wunderbaren Alfred Andersch und erzählte ihm von dem Verriss. Andersch sagte: ,Wenn sie das nicht von sich fernhalten können, müssen sie wirklich aufhören.‘ Das hat mir nicht so viel geholfen, aber zwei Wochen später traf ich ihn auf der Buchmesse wieder, damals war gerade ,Winterspelt‘ von ihm erschienen, ein tolles Buch. Hochrot kam er mir entgegen, wütend, schäumend geradezu, weil er an diesem Tag einen Verriss bekommen hatte. Das immunisierte mich weitgehend. Klar, ich ärgere mich auch, aber moderat. Ich bin zudem gut behandelt worden über die Jahre, ich habe keinen Grund zu klagen.“

Auch „Halbschatten“ ist mit einer Ausnahme bislang sehr freundlich aufgenommen worden. Uwe Timm sagt jedoch, ihm sei schon beim Schreiben klar gewesen, dass dieses Buch nicht unbedingt leicht zu lesen sein werde: „Man muss es vielleicht sogar zweimal lesen, um die Motivführung zu verstehen.“

Der Kern des Romans besteht in der Geschichte der 1907 geborenen Fliegerin Marga von Etzdorf, die in den frühen dreißiger Jahren mehrere Langstreckenflüge unternimmt, auf einer dieser Flüge in Japan den Diplomaten und ehemaligen Jagdflieger Christian von Dahlem kennenlernt und sich in diesen verliebt. Nach ihrer insgesamt dritten Bruchlandung nimmt sie sich 1933 in Aleppo, Syrien in einem kargen Hotelzimmer das Leben.

Begraben wurde von Etzdorf auf dem Invalidenfriedhof in Berlin-Mitte, auf dem Timms Roman gewissermaßen seine endgültige Gestalt bekommt, das Gerüst, in das von Etzdorfs Geschichte eingeklinkt ist. Timm lässt seinen Erzähler, begleitet von einem Führer, dem „Grauen“, über den Friedhof laufen. Nach und nach gesellen sich die Stimmen der hier begrabenen Toten dazu, fallen dem Erzähler, fallen sich ins Wort, Tote wie der preußische Militärreformer Gerhard von Scharnhorst, der Jagdflieger Manfred von Richthofen oder der SS-Anführer Reinhard Heydrich. Heraus kommt dabei eine Art Flickenteppich preußisch-deutscher Militär- und überaus dunkler Nazigeschichte. Dabei wird die fiktiv angereicherte Lebensgeschichte von von Etzdorf alles andere als auserzählt. Sie weist bewusst Lücken auf und bricht durch den Einsatz der vielen anderen Stimmen immer wieder ab, um an anderer Stelle wieder aufgenommen zu werden.

Timm weist auf die Musikalität seines Buches hin, „ich habe das als Oratorium angelegt“ und zeigt anhand eines Manusskriptstapels, wie viel er immer wieder gestrichen habe: „Die Delete-Taste spielte dabei eine große Rolle, aber eine lustvolle!“ So sei sein Roman wohl doch mehr als nur „Geschichtsreflexion, Geschichtsliteratur“, zudem suche er sich ein Thema nicht nach aktueller Markttauglichkeit aus: „Es müssen Themen sein, die zutiefst mit mir selbst zu tun haben. Der Invalidenfriedhof hat für die Deutschen eine aufgeladene Bedeutung, aber mir ist schnell klar geworden, wie aufgeladen er für mich selbst ist: Viele der Namen auf diesem Friedhof sagen mir was seit meiner Kindheit, sie gehören zu ihr. Mein Vater war geradezu vernarrt in die Fliegerei. Er war überzeugter Soldat und Preuße, kein Nazi, aber ein Deutschnationaler durch und durch, der mit viel Kenntnis und Emphase von deutscher Geschichte erzählen konnte.“

Schon kurz nach dem Mauerfall besuchte Timm den damals ziemlich verwahrlosten Invalidenfriedhof, las im Anschluss ein Buch über die hier Bestatteten und erfuhr dabei, dass auch eine Frau darunter ist: „Ihr Stein auf dem Friedhof war beim ersten Besuch kaputt, erst später ist ein Findling für sie dort hingesetzt worden“. Diese Frau sei für ihn „der Treibsatz“ für die Entwicklung seines Romans gewesen. An ihrer Geschichte habe ihn, das betont er mehrmals, das „Heroische“ gereizt, „das uns heute so fern ist und in ihrem Fall noch nicht von den Nazis korrumpiert war. Und die ihr innewohnenden utopischen Momente, von der Freiheit zu fliegen, von der Liebe. Die beiden finden sich in Japan ja nur über die Sprache, indem sie über ihre Gefühle reden, über ihr Begehren. Sie kommen körperlich ja nicht zusammen.“

Mag „Halbschatten“ von seiner Komposition ein ungewöhnlicher Timm-Roman sein, auch weil er das von Timm propagierte „Erzählen und kein Ende“ dieses Mal leicht unterläuft, so fügt er sich doch gut in sein Werk. Timm versteht ihn als Abschluss seiner Berlin-Trilogie, nach den Romanen „Johannisnacht“ und „Rot“. Deutsche Geschichte mit Berlin als Klammer, entlangerzählt an den entscheidende Umbrüche markierenden Jahreszahlen 1933/1945, 1968 („Rot“) und 1989 („Johannisnacht“)? Timm nickt und antwortet lächelnd: „Der Autor sagt ja!“ Und bei der Betonung auf die private Involviertheit, auf die Bedeutung dieses Friedhofs für Timm selbst, schließt „Halbschatten“ natürlich auch an seine autobiografischen Bücher an, insbesondere an „Am Beispiel meines Bruders“.

Wer Timms Lebensgeschichte kennt, wird dann immer mal wieder aufmerken, wenn von Coburg die Rede ist und insbesondere über die Stelle in „Halbschatten“ stolpern, in der auf einmal jemand „Ich. Ich. Ich.“ ruft und auf einer belebten Münchener Straße plötzlich eine „von einer großen Genauigkeit“ getragene Erinnerung an Berlin hat, die sich wiederum mit einer Erinnerung an Soldatenaufmärsche in Coburg vermengt, wo Timm während des Krieges und kurz danach ein paar Jahre gelebt hat. „Es war, als hätten all die Spiele, die frühen Bilder, das Erzählen, wie es damals war, für einen kurzen Augenblick die Gegenwart erobert.“ Und ein paar Sätze später: „Der Vater war bei der Luftwaffe und wäre gern geflogen, das war sein Wunsch gewesen. Aber er war nur mitgeflogen. Umso mehr und desto genauer kannte er sich in den verschiedenen Maschinen und in ihren Flugeigenschaften aus.“

Uwe Timm möchte Passagen wie diese nicht weiter kommentieren. Er stellt sich aber gern der Frage, ob er denn nun gerade vor dem Hintergrund seiner schwierigen Kriegs- und Nachkriegskindheit ein so glücklicher Mensch sei, wie es oft den Anschein mache: „Vielleicht. Ganz sicher jedoch ein sehr disziplinierter, sehr preußischer Mensch.“ Und er fügt dann noch an: „Erinnerungen finden im Erzählen ihre Erlösung, also für mich durch das Schreiben.“

Uwe Timm: Halbschatten. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2008. 270 Seiten, 19.90 €. Heute Abend, 20 Uhr, Buchpremiere mit Uwe Timm, Akademie der Künste, Pariser Platz 4

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