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Literatur: Expeditionen ins Seelenreich

Verstörende Prosa mit verstörten Figuren: Peter Stamms traurigschöne Erzählungen "Wir fliegen“.

Autoren sind jene Spezies, denen die rettungslose Einsamkeit des Menschen bewusster ist als anderen. Sucht man für diese Behauptung Robert Musils in der Gegenwartsliteratur nach einer Bestätigung, fällt einem sofort der Schweizer Autor Peter Stamm ein. Füreinander unerreichbar und fremd bleiben sich alle Figuren dieses bemerkenswerten Erzählers, ob sie nun die Nähe eines Gegenübers suchen oder vor ihr fliehen. Am einsamsten freilich sind jene, die in Beziehungen leben.

Zum Beispiel Angelika in der Titelgeschichte von Stamms neuer Erzählsammlung „Wir fliegen“, seiner dritten nach „Blitzeis“ (1999) und „In fremden Gärten“ (2003). Wie so oft bei Stamm ist es ein eher unspektakulärer Zufall, der seiner Protagonistin das offenbart, was der Alltag ihr bislang vergessen half: die Verfehltheit ihres Lebens. Eines Abends wartet ein Junge vergeblich auf seine Eltern, weshalb ihn die Erzieherin mit zu sich nach Hause nimmt. Dort taucht bald ihr gut gelaunter Freund auf, der sich von dem „Zwerg“ nicht den Spaß verderben lassen will, für den er gekommen ist.

Doch bereits die bloße Anwesenheit des Jungen führt Angelika die Tristesse ihrer Existenz vor Augen: „Er hatte sie angeschaut, als sei sie schuld daran, dass seine Eltern nicht kamen. Ich mag ihn nicht, dachte sie. Eigentlich mag ich sie alle nicht“, heißt es lapidar: Stamms stilistisches und motivisches Repertoire ist überschaubar, die Wiedererkennbarkeit seiner Werke groß. Ihr Suchtpotenzial freilich ebenso – auch in seinem neuen Buch erweist sich Peter Stamm als unübertroffener Maître der Lakonie und Ökonomie. Seine Sprache ist schmucklos und präzise; jeder Satz ein Treffer, jedes Wort am richtigen Platz. Eine verstörende Prosa mit verstörten Figuren.

Die meist das Falsche machen oder gar nichts. Die im entscheidenden Moment den Glauben an sich verlieren wie Heidi auf ihrer Fahrt nach Wien zur Kunstakademie. Mutlos steigt sie bereits in Innsbruck aus, um prompt ihrem zukünftigen Ehemann in die Arme zu laufen; gezeichnet wird von da ab nur noch heimlich und voller Verachtung für ihren Mann. Anderen spielt ihre Sehnsucht Streiche: Bei Daphne in „Die Erwartung“ sind es die Geräusche aus der Wohnung über ihr, die ihr Bewusstsein in ein überempfindliches Empfangsorgan für die Kunde von einem anderen Leben verwandeln. Nur dass sich der neue Nachbar mit der alleinstehenden Frau, die seine Mutter sein könnte, wohl nur aus Mitleid unterhält. „Als ich einmal eine seiner Hände auf meine Brust lege, lässt er sie einen Moment lang reglos liegen und zieht sie dann zurück. Er braucht Zeit, denke ich. Aber ich habe keine Zeit. Das sage ich natürlich nicht.“

Auffallend oft werden Stamms vereinsamte Figuren von Paranoia und Angst heimgesucht. Der Protagonist in „Videocity“ weiß sich als Hauptperson in einer Art „Truman-Show“, umgeben von Kulissen und Statisten. Auch Bruno, der Hotelrezeptionist, der eine Nachtschicht lang auf eine Krankheitsdiagnose warten muss (ein aus Stamms Roman „An einem Tag wie diesen“ bekanntes Motiv) und froh ist, diese Zeit nicht bei seiner Frau verbringen zu müssen, gerät zunächst in Panik bei der Vorstellung, sterben zu müssen. Dann aber schlägt die Angst um in einen rauschhaften Glückszustand.

Dass solche profanen Epiphanien nur um den Preis des Alleinseins zu haben sind, ist eine Einsicht, die Stamms Personal mit Rilkes Malte Laurids Brigge teilt. Wobei sich die vorübergehende Auflösung erstarrter Identitätsmuster meist im flüssigen Element vollzieht. Bruno taucht ebenso glücklich ins Wasser des Hotel-Pools ein wie Lukas in „Männer und Knaben“, der ins leere Freibad einsteigt und sich dort der Fantasie hingibt, ein Mädchen zu sein. „Alles war sehr klar und oberflächlich. Es war eine Mischung aus Glück und Unglück. Es war Glück, das sich wie Unglück anfühlte.“

Doch sind nicht alle der neuen Geschichten Stamms von gleicher Qualität. Die Reue des Architekten am Grab seiner Ex-Frau erscheint moralinsauer („Das Alter“). Auch bleibt unklar, wohin der pseudomärchenhafte Ton führen soll, mit dem Stamm in „Kinder Gottes“ von einem Pfarrer in Ostdeutschland erzählt, der anfängt, an eine Jungfrauengeburt zu glauben. In der formal überraschenden Schlussgeschichte aber, einer Künstlergeschichte über den französischen Maler Jean-Baptiste-Camille Corot, einem frühen Impressionisten und Freilichtmaler, ist Stamm so etwas wie eine Charakterisierung seines eigenen Stils gelungen: „Dein Blick ist kalt, nicht gefühllos. Die Kälte des Blicks ist Bedingung. Du darfst nicht mitschwingen, wenn du klar sehen willst. Etwas mit kaltem Blick zu sehen heißt, nur noch ein Auge zu sein. Anders ist es nicht möglich, sich einzufühlen in eine Landschaft oder einen Menschen.“ Auch Stamms Texte sind keine Wärmestuben für Harmoniesüchtige. Was seine Expeditionen in die menschliche Unterwelt ans Tageslicht fördern, sind traurigschöne Bilder zeitloser und zugleich ganz im Heute beheimateter Seelenlandschaften. Einige in Momenten der Erstarrung, andere, vielleicht, des Auftauens.

Peter Stamm: Wir fliegen. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt/Main 2008. 175 Seiten., 17,90 €. Der Autor liest heute Abend, 20 Uhr 15, in Lehmanns Buchhandlung, Hardenbergstr. 5 und Fr. 23, 5, 20 Uhr, im Brecht-Haus, Chausseestr. 125

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