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Lenka Reinerová

© dpa

Literatur: Solange der Frühvogel singt

Zum Tod von Lenka Reinerová, der letzten deutschen Schriftstellerin in Prag.

Jetzt sitzt sie selbst in diesem Prager Traumcafé, das sie sich erfunden hat. Die verstorbenen Prager deutschen Dichter versammelte sie dort: Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka, Egon Erwin Kisch. Sie blicken hinunter auf ihre Vaterstadt und Lenka Reinerová konnte sie zu sich rufen, wenn sie Gesprächspartner brauchte. Denn sie war die Letzte einer zurückliegenden Epoche, als eine winzige Minderheit von Deutschen, vor allem deutschen Juden, etwa fünf Prozent der Bevölkerung, in dieser tschechischen Stadt eine Literatur von Weltrang hervorbrachte, bis sie von deutschen und österreichischen Nationalsozialisten vernichtet wurde. Lenka Reinerová, die zarte, gebrechliche Gestalt mit dem schönen Kopf und den wachen Augen, aufmerksam für alles, ist am 27. Juni mit 92 Jahren in Prag gestorben.

1987 lernte ich sie kennen, als ich die Konferenz „Berlin und der Prager Kreis“ im Literarischen Colloquium am Wannsee organisierte. Bis dahin wusste ich nichts von ihr, obwohl sie schon 1958 ihr erstes Buch in Ost-Berlin veröffentlicht hatte. Franz Goldscheider, ein tschechischer Emigrant, der über Theater in Theresienstadt sprach, hatte sie vorgeschlagen. So kam Reinerová zum ersten Mal in den Westen und brachte ihr Buch „Es begann in der Melantrichgasse“ mit, das zwei Jahre zuvor im Aufbau-Verlag erschienen war. Diese Prager Melantrichgasse (Melantrichova), die zum Altstädter Ring führt, ist einer ihrer magischen Orte. Hier wohnte sie mit Eltern und Schwester vor dem Krieg und hier hatte der Vater von Egon Erwin Kisch sein Textilgeschäft.

Doch es dauerte bis zur „samtenen Revolution“ von 1990, ehe Reinerová in ganz Deutschland bekannt wurde, erst da konnte sie sich freischreiben und sie schrieb unermüdlich auf ihrer alten Schreibmaschine in der kleinen Wohnung an der Plzenska: Sieben Bücher erschienen im Aufbau-Verlag. Schrieb Reinerová so viel, weil sie so alt wurde? Wohl eher wurde sie so alt, weil sie so viel schrieb. Denn sie schrieb sich frei. Es gelang ihr nach und nach, in Worte zu fassen, was sie, was die Prager Juden erlebt und erlitten hatten. In dem 1999 erschienenen Band „Das Traumcafé einer Pragerin“ schilderte Reinerová in der Erzählung „Der graue Wölfling“ ein Ungeheuer, das ihr in Albträumen erschien, ein mal kleines, mal großes graues Tier: Erinnerung an das, was man ihrer Familie angetan hatte und ihr, der einzigen Überlebenden der Familie.

Lenka Reinerovás Leben war von Flucht und Gefangenschaft geprägt. Als junges Mädchen kam sie in die Redaktion der „Arbeiter Illustrierten Zeitung“, die 1933 von Berlin nach Prag flüchten musste. Dort lernte sie F. C. Weiskopf kennen und Egon Erwin Kisch. Dann, als die deutschen Truppen im März 1939 in Prag einmarschierten, war sie zufällig in Bukarest. Sie fuhr nach Paris, wurde verhaftet und saß ein halbes Jahr im Gefängnis. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen konnte sie in die deutschenfreie Zone Frankreichs flüchten, wurde aber wiederum in ein Internierungslager gesperrt. Schließlich gelang es Reinerová, von Marseille nach Casablanca zu fliehen, wo sie ein halbes Jahr lang ohne Pass und Geld auf die Überfahrt nach Mexiko wartete. Dort traf sie Kisch und Weiskopf wieder, die sich für sie eingesetzt hatten. Sie lernte ihren späteren Mann kennen, den jugoslawischen Arzt und Schriftsteller Theodor Balke.

Mit ihm ging sie nach dem Krieg nach Belgrad und 1948, nachdem die Kommunisten die Macht ergriffen hatten, nach Prag. Sie wollte als Redakteurin des Prager Rundfunks dem Aufbau des Sozialismus dienen. Diesen hatte sie sich freilich anders vorgestellt. Weil sie mit einem Jugoslawen verheiratet war, wurde sie zunächst des „Titoismus“ verdächtigt und verhaftet. Sie saß wiederum 15 Monate im Gefängnis und wurde in die Provinz verbannt. 1964 rehabilitiert, konnte sie Chefredakteurin der Zeitschrift „Im Herzen Europas“ werden, einer Zeitschrift für das deutschsprachige Ausland. Doch auf den Einmarsch der Sowjets und das Ende des Prager Frühlings 1968 folgte ein erneutes Schreibverbot.

Trotz dieser bitteren Erfahrungen sind Reinerovás Bücher nie wehleidig. Ein wenig ironisch, ein wenig traurig, aber immer von einer merkwürdigen Gelassenheit. In der Geschichte vom „Frühvogel“ schreibt sie: „Der Frühvogel singt und wir leben einen weiteren Tag.“ Er ist das Gegenstück zum grauen Wölfling.

Vor drei Jahren trat Reinerová noch einmal in Bonn auf. Mehr als dreihundert Menschen waren gekommen, sie las lebhaft, fast jugendlich, und eine warme Zuneigung strömte ihr zu. Ehrungen erhielt sie schließlich in Prag und in Deutschland: Die Verdienstmedaille von Vaclav Havel, die Goethe-Medaille in Weimar. Doch sie nahm die Ehrungen nicht nur für sich entgegen, sondern auch für die anderen, die aus dem Prager Traumcafé.

Zum Ende ihres Lebens hatte sie die Idee, ein Literaturhaus der Prager deutschen Literatur müsse her. Nun haben sich der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf die Gründung einer solchen Einrichtung in Prag verständigt. Wenn es denn auf der Kleinseite eröffnet wird, dann wird Lenka Reinerovás Prager Traum Wirklichkeit.

Hans Dieter Zimmermann

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