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Literaturfestival: Das andere Gesicht

Von Puppenstuben und Bloggern: Das Berliner Literaturfestival widmet sich Lateinamerika. Viele der jungen lateinamerikanischen Autoren sind bisher kaum ins Deutsche übersetzt worden, leben großenteils im europäischen Ausland und schreiben fast ohne Bezug zum eigenen Land.

Musikalische Ouvertüre vor der Lesung: Das kubanische Wiegenlied „Canción de Cuna“, interpretiert von einem lyrischen Gitarristen aus Barcelona, stimmt ein auf die wütend-groteske Schilderung einer Familiengeschichte in Havanna. Karla Suárez, die im Haus der Berliner Festspiele ihr Romandebüt „Gesichter des Schweigens“ präsentiert, hat sich mit viel Fantasie, sprachlicher Klarheit und erzählerischem Furor etwas von der Seele geschrieben. Nein, sagt die kubanische Autorin, diese Geschichte vom Erwachsenwerden eines Mädchens sei nicht autobiografisch. Aber in der Strindberg’schen Puppenstube, die sie entwirft, in der Verlogenheit und Doppelmoral, die das familiäre Netz beherrschen, spiegelt sich auch die kubanische Gesellschaft. Daher heißt es in Suárez’ Roman: „Wenn man mit der Welt, in der man lebt, nicht einverstanden ist, ist es manchmal hilfreich, eine andere Welt zu erfinden, sein Gesicht zu verändern, eine andere Identität anzunehmen, das löscht deine Geschichte nicht aus.“

Karla Suárez, Jahrgang 1969, gehört zu den jungen Schriftstellern aus Lateinamerika, denen das Berliner Literaturfestival einen Schwerpunkt gewidmet hat. Diese neue Generation der unter 39-Jährigen, die vor kurzem auch in Bogotá, der diesjährigen Welthauptstadt des Buches, auf dem Festival „Bogotá 39“ zusammenkam, bekennt sich vor allem zum Stilpluralismus. Damit erkundet sie neue Möglichkeiten, die jenseits des „magischen Realismus“ liegen, wie sie der lateinamerikanische „Boom“ in den Siebzigern hervorbrachte.

Gemeinsam ist den Enkeln der berühmten „Boom“-Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Julio Cortázar allerdings nur wenig. So sind die jungen Autoren bisher kaum ins Deutsche übersetzt worden; sie leben großenteils im europäischen Ausland, aber nicht mehr unbedingt im Exil; der ausdrückliche Bezug zum eigenen Land ist kaum noch gegeben. Und meistens arbeiten sie neben ihrem literarischen Schaffen als Übersetzer, Journalisten oder Dozenten.

Dazu kommt die Affinität zu neuen Medien. Der Peruaner Santiago Rocangliolo sagt auf einer Podiumsdiskussion über die Mode der literarischen Blogs: „Ich möchte gute Literatur mit Mitteln der Populärkultur machen, Fernsehen, Kriminalroman, für mich scheint beides vereinbar.“ Tatsächlich ist sein Roman „Roter April“ mehr als ein intelligenter Thriller über die Verarbeitung des blutigen Erbes des „Leuchtenden Pfads“, einer peruanischen Terrorgruppe. Im letzten Jahr wurde er mit dem renommierten Premio Alfaguara ausgezeichnet. Die anschließende Lesereise rund um die Welt verarbeitete Rocangliolo in seinem Blog als virtuelles Tagebuch, worin er nicht zuletzt über die eigene Entwurzelung beim Reisen schreibt: „Auf dieser Tour hat sich mein Leben selbst in einen Roman verwandelt.“ Dass eine Auswahl der Einträge kürzlich unter dem Titel „Jet Lag“ ausgerechnet in Buchform veröffentlicht worden ist, wertet Moderator Dieter Ingenschay schmunzelnd als Zeichen dafür, wie sich das Medium Weblog selbst ad absurdum führen kann.

Auch aus diesem Grund verzichtet die Mexikanerin Guadalupe Nettel auf einen eigenen Blog. Der Autor solle bitte schön ein Meisterwerk hervorbringen, seine Leser jedoch nicht mit den intimen Petitessen des Alltäglichen langweilen. Iván Thays, der im peruanischen Fernsehen ein Literaturprogramm („Geschäft der Eitelkeit“) moderiert, begreift seinen Blog dagegen als literarische Nachrichtenagentur und Diskussionsforum. Doch Blogger auf der Suche nach Substanz, darin sind sich die drei Autoren einig, seien leider nur Einzelfälle.

Wie sieht es derzeit mit den weiblichen Autoren aus? Das will die Moderatorin und Lateinamerikanistin Anja Bandau wissen. Und: Gibt es eine spezifisch weibliche Form des Schreibens? Claudia Amengual aus Uruguay, die auf dem Podium im Instituto Cervantes sitzt, stellt die Gegenfrage: Gibt es denn eine „männliche Literatur“? Auch Guadalupe Nettel und Karla Suárez weigern sich, von einer besonderen weiblichen Perspektive zu sprechen: Ihre Figuren, auch die männlichen, seien im Leben selbst verwurzelt, nicht aber philosophische oder poetologische Konstrukte.

Die Moderatorin hakt weiter nach, ihr geht es um, hoppla, „explizit gegenderte Figuren“. Wie hier beflissene Literaturwissenschaft und schriftstellerischer Pragmatismus aufeinanderprallen, ist eine Lektion für sich; ganz offensichtlich begreifen sich die Autorinnen nicht als unterdrückte Figuren am Rand der Gesellschaft. Literatur, findet Amengual, sollte sich ausschließlich für sich selbst engagieren. Vorrangig geht es also um sprachliche, erzählerische Selbstfindung. Und deshalb trägt die junge Generation ihr soziales und politisches Engagement lieber in anderen Foren aus; Pamphletismus in der Literatur ist ihr fremd.

Roman Rhode

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