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Ludvík Kundera: Sommerbuch der kleinen Wünsche

Surrealist ohne Manifest: Poesie und Prosa des tschechischen Dichters Ludvík Kundera.

Auf dem Deckblatt steht neben seinem Namen auch ein rätselhafter Titel. Was, um Himmels willen, bedeutet „el do Ra Da (da)“? Klar, dass es irgendwas mit Dada zu tun haben muss. Tatsächlich lernte Ludvík Kundera, der heute zu den bekanntesten tschechischen Gegenwartsdichtern zählt, den von ihm hochgeschätzten dadaistischen Künstler Hans Arp 1946 in Paris anlässlich einer Ausstellung kennen: „Ich war von der Gesetzmäßigkeit dieses surrealistischen Zufalls überzeugt“, schreibt er später über diese denkwürdige Begegnung. Weniger als das Dada im Titel dürfte aber das kleine Wörtchen „Ra“ zu entschlüsseln sein, denn hier verästelt sich der europäische Surrealismus ins Spezielle hinein.

Zwar war der Surrealismus ein europäisches Phänomen; sonst gäbe es einen Dichter wie den Rumänen Gellu Naum nicht, dessen Werk inzwischen in einer profunden Ausgabe im Verlag Urs Engeler Editor auch auf Deutsch vorliegt. In Tschechien waren es aber zunächst die Dichter Nezval und Teige, die 1922, „an einem Herbstabend“, der Avantgarde einen Grundstein legten, indem sie eine Bewegung namens „Poetismus“ erfanden. Eine „Anthologie des Poetismus“ gab Kundera, der Cousin von Milan Kundera und Neffe des Pianisten Ludvík Kundera im Rahmen der Tschechischen Bibliothek bei der DVA mit heraus.

Die tschechische surrealistische Gruppe um Nezval gründete sich erst im Jahr 1934. In dieser Linie muss man auch die Künstlergruppe Ra sehen, der sich bald auch Kundera anschloss. Ra war eine typische Nachkriegsgründung, deren Ausgangspunkt der Surrealismus der Vorkriegszeit blieb, auch wenn man sich später gegen die „reine Lehre“ eines André Breton abzugrenzen begann. Manifeste und Mitgliederlisten gab es bei Ra nicht. Man dachte und schrieb innerhalb der Gruppe wohl aber surrealistisch. Auch an Kunderas Gedichten aus dieser Zeit ist das nicht spurlos vorübergegangen: „Du sagst kompass / und das ist / als segle ankerlos der mund“. Aber Ludvík Kundera ein Surrealist? Diese Zuordnung greift zu kurz.

Spätestens seit den 80er Jahren ist sein Ton mehr ironisch-lakonisch als irgendwie surrealistisch. Kunderas Entwicklung ist an dieser von Eduard Schreiber vorzüglich besorgten Auswahl, die auch Erstabdrucke wiederaufgefundener Texte enthält, ebenso nachzuvollziehen wie das Ringen um eine eigene Sprache in den Zeiten des Protektorats. Damals wurde der gerade einmal 23-Jährige als Fremdarbeiter nach Berlin-Spandau geschickt. Dort schrieb er an einem Manuskript mit dem lakonischen Titel „Roman“, doch ein Romancier ist Kundera nie geworden. Auf Deutsch trägt der Text den schlichten Titel „Berlin“ (VDG Verlag, Weimar 2000) und die Gattungsbezeichnung Erzählung.

Vielmaschig ist das Netz zwischen dem 1920 in Brünn geborenen und Litomerice aufgewachsenen Kundera und seinen (lebenden und toten) deutschen Freunden und Kollegen, die er fast alle ins Tschechische übersetzt hat: Peter Huchel, Franz Fühmann, Günter Kunert, Heinz Czechowski, Erich Arendt, Hanns Cibulka und viele andere. Dem in märkischer Abgeschiedenheit lebenden Peter Huchel ist in „el do a Da (da)“ein schöner Text gewidmet, ein anderer dem großen tschechischen Dichter Jan Skacel, der wie Kundera eine Zeitlang als Zeitungsredakteur arbeitete. Oder den beiden hierzulande so gut wie unbekannten Lyrikern Emil Julis und Frantisek Listopad.

Viele Texte der Sammlung, die zuvor nur in Zeitschriften erschienen sind, hat Herausgeber Eduard Schreiber selbst übersetzt. Eine Perle ist Reiner Kunzes Nachdichtung von „Grummetwunsch“, einem Gedicht aus Kunderas „Sommerbuch der Wünsche und Beschwerden“ aus dem Jahr 1962.

Zu Ehren kam Ludvik Kundera spät. 2002 wurde ihm auf der Leipziger Buchmesse der Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass dieser Dichter zwischen 1948 und 1961 fast nichts und ab 1970 überhaupt nichts mehr veröffentlichen durfte. Da galt es für ihn schlicht zu „Überwintern“, wie es die Titel einer ganzen Serie von Gedichten, deren Motiv alljährlich wiederaufgenommen wurde, empfehlen: „ich deklinierte Bitterkeit mir wiederholt und mit Gefallen / Voll Furcht schlug ich ein paar berühmte Nummern auf / Mit diesem Volk, so rein, so klar? / (das Fragezeichen ist von mir)“, heißt es in „Überwintern 1975“, und nur Wassertonne, Nussbäume und Holunder erweisen sich über die Jahre hin als einigermaßen beständig.

Einen besonderen Platz im Werk Kunderas nehmen seit je, anknüpfend an Nezvals Äußerung, dass das „dichterische Werk im Grunde genommen die Struktur des Traums“ habe, die Träume ein. 1979 wird ein ganzes Buch daraus, „Sny“, Träume. In späteren Träumen – 1995 erscheint ein „Sny tez“ (Auch Träume) betitelter Band – erscheinen ihm immer öfter Gestalten aus einer untergegangenen Welt, wie die Baronin Dubska alias Marie von Ebner-Eschenbach oder der österreichische Erzähler Ferdinand von Saar.

Dass der leidenschaftliche Teetrinker und Weinkenner Ludvik Kundera stets für Überraschungen gut ist und alle Ismen hinter sich lässt, zeigen nicht zuletzt die 2003 im Band XI seiner tschechischen Werkausgabe erschienenen dreizeiligen „Teeporträts“, die mit der Form des japanischen Haiku spielen und manchmal in einer Frage enden: „Am Pass blieb stecken ein Karren. / Vergeblich knallt der Knabe die Peitsche. / Naht Sturm oder will uns nur Dämmerung narren?“ (Darjeeling).

Ludvík Kundera: el do Ra Da (da). Gedichte. Erzählungen. Essays. Bilder. Aus dem Tschechischen übertragen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber. Arco Verlag, Wuppertal 2008. 412 S., 26 €.

Poesiealbum 281: Ludvík Kundera. Ausgewählt und nachgedichtet von Eduard Schreiber. Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2008. 31 Seiten, 4 €. (Kontakt über www.maerkischerverlag.de)

Ludvík Kundera: Erinnerungen an Städte/Stätten, wo ich niemals war. Aus dem Tschechischen von E. Schreiber. Edition Thanhäuser, Ottensheim 2005. 112 S., 24 €.

Volker Sielaff

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