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Max Weber um 1910.

© imago images/Everett Collection

Max Weber hat die Entzauberung der Welt erforscht: Der Ursprung der Moderne

Der Abschluss der Gesamtausgabe fordert zu neuer Lektüre auf.

Warum lesen wir überhaupt Weber? Auf diese Frage hat es so viele verschiedene Antworten gegeben, dass sie vor der Lektüre eher abschrecken als zu ihr einladen. Kaum einer kann Webers Werk ganz überblicken, geschweige denn die zum Umfang einer mittleren Universitätsbibliothek angeschwollene Sekundärliteratur. 

Weber war nach- und nebeneinander Jurist, Nationalökonom und Soziologe, von seiner publizistischen Tätigkeit ganz zu schweigen,. Die allein genügte, ihm einen Platz in der deutschen Geschichte zu sichern. Aber was war seine zentrale Fragestellung, oder besser vielleicht: Was war sein roter Faden? Gab es ihn?

Es wäre vermessen, einen einzelnen solchen Faden auffinden zu wollen. Weber war der unbestechliche Analytiker der abendländischen Moderne. Aber es gibt etwas, dass man als das tragische Bewusstsein Webers bezeichnen könnte; das Bewusstsein des Verlusts, der mit der Moderne einhergeht. Seine Frage- oder besser Problemstellung, das ist diese Moderne, die er aus immer neuen Blickwinkeln betrachtet. Mit dem Abschluss der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist eine in jeder Hinsicht zuverlässige Lektüre der zu Lebzeiten bisweilen an entlegenen Orten publizierten und später nicht immer textgetreu nachgedruckten Schriften Webers möglich.

Moderne - warum nur hier?

Auf die Spur führen die berühmten Zitate, mögen sie auch inflationär benutzt worden sein. Die „Vorbemerkung“ zu den Aufsätzen zur Religionssoziologe, dem letzten, noch zu großen Teilen abgeschlossenen Werk vor seinem frühen Tod im Juni 1920 infolge der Spanischen Grippe, hebt an mit diesem Satz: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ 

Wir sind heute vorsichtiger mit Aussagen, die die ganze Welt betreffen. Eigenart und Eigenwert nicht-westlicher Entwicklungsformen werden heute, anders als in der Glanzzeit Europas um 1900, nicht mehr bestritten oder abgewertet. Und doch bietet gerade die heutige Globalisierung Beispiele genug für die alles überwältigende Ausbreitung „der“ – nun einmal abendländischen – Moderne.

Das "eingeschulte Fachmenschentum"

Weber zählt auf, was sich zwar nicht nur, aber doch in besonderer Weise nur im Abendland herausgebildet hat; wobei Weber immerfort betont, wo und zu welchen Zeiten es vergleichbare, aber eben zu unterscheidende Ansätze gegeben hat. Das gilt auch für seinen ureigenen Bereich der Wissenschaft, der das „eingeschulte Fachmenschentum“ hervorgebracht hat. Und dann folgt, wenige Seiten später, ein Satz, der seiner zentralen Bedeutung halber einen eigenen Absatz bildet: „Und so steht es nun auch mit der schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus.“ 

Was heißt „Kapitalismus“ bei Weber? Ihn interessiert „die Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit. Oder, kulturgeschichtlich gewendet, die Entstehung des abendländischen Bürgertums mit seiner Eigenart“. Die aber besteht in einem „spezifisch gearteten ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“; und Weber setzt „Rationalismus“ in Anführungszeichen, weil er sagen will, dass sich alle Lebensbereiche, selbst die Religion, auf ihrer je eigene Weise rationalisieren, das heißt vor allem berechenbar machen lassen. Darin besteht das singuläre, historische Scharnier zwischen Puritanismus und Kapitalismus – nicht, dass die Puritaner zum Unternehmertum gedrängt hätten, sondern, dass sie eine Rationalisierung der Lebensführung bewirkten, die die Ausbildung des Kapitalismus begünstigte, ohne dass dieser der religiösen Überzeugungen bedurft hätte oder gar weiterhin bedürfte.

Kapitalismus, das zentrale Phänomen

Das ist der Gegenstand, den Weber in seinem reifen Werk von den verschiedensten Seiten her untersucht: der Kapitalismus, seine Eigenart und seine Entstehung. Gemeint ist stets die bürgerliche Lebensform in all ihren Facetten. Weber ist darin nicht allein; der Kapitalismus in seiner gesellschaftsbildenden Macht ist das große Thema der Zeit. Vor ihm hat es der befreundete Nationalökonom Werner Sombart in seinem zweibändigen Werk „Der moderne Kapitalismus“ behandelt. Webers zweiteiliger Aufsatz von Buchlänge, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 1904/05, hat schon seinem Titel nach Epoche gemacht als einer der grundlegenden Texte der Sozialwissenschaften. Weber steht damit durchaus nicht allein. Der befreundete Theologe Ernst Troeltsch hat zeitgleich aus anders geartetem Blickwinkel Ähnliches über die Wirtschaftsgesinnung der Neuzeit zutage gefördert. Über all dem liegt der lange Schatten von Karl Marx, dessen „Kapital“ erst 1890 posthum mit dem von Friedrich Engels bearbeiteten dritten Band abgeschlossen vorlag, also zu Webers Studentenzeit. Dass Weber (auch) als „Anti-Marx“ wahrgenommen wurde, ist aus heutiger Sicht überholt, aber es spielt für die Rezeption im späten Kaiserreich, das den historischen Ort von Webers Wirksamkeit und nebenbei den Kampfplatz seiner besonders im und nach dem Weltkrieg hervorstechenden politischen Publizistik bildet, eine bedeutende Rolle.

Die "Lebensführung"

Weber geht aber weiter. Die „Rationalisierung“, die er als Entwicklungstendenz entschlüsselt, hat eine rationale Lebensführung hervorgebracht, als deren wichtigster Bestandteil der Beruf hervortritt und als dessen Verkörperung der Berufsmensch. „Ein konstitutiver Bestandteil des kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist geboren aus dem Geist der christlichen Askese“, beharrt Weber. Es dies eine „innerweltliche Askese“, die also innerhalb des weltlichen Lebens ausgeübt wird – das Gegenteil von Weltflucht. Bei den Puritanern findet er den Beginn jener „methodischen Rationalisierung der Lebensführung“, der für die eigene Zeit der entwickelten Moderne kennzeichnend ist. Zu ihr gehört wesentlich die Berufsidee. 

Von ihr führt der Weg zum (Fach-)Beamten staatlicher Einrichtungen, und damit zur Bürokratisierung, mit deren soziologischer Beschreibung Weber lange Zeit vornehmlich identifiziert wurde. Die Bürokratisierung gehört systematisch zur Soziologie der Herrschaft, einem wichtigen und bahnbrechend neu beschriebenen Themenkomplex Webers. Sie kann an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden kann; es genügt für den hier dargestellten Zusammenhang die Definition aus dem nachgelassenen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“: „Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittels bureaukratischen Verwaltungsstabs.“ Dies wiederum „bedeutet Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter.“ So ist die Bürokratie oder bürokratische Verwaltung, zumal in der zu seiner Zeit sich rasant verbreitenden „Massendemokratie“ – eine Erfahrung insbesondere seiner Amerika-Reise von 1904 –, ein weiterer Ausdruck der umfassenden Tendenz zur Rationalisierung.

Das "stahlharte Gehäuse"

Weber sah dies kritisch. In der Verfestigung der „modernen Berufsarbeit“ bedauerte er, in einer unerwartet poetischen Formulierung, den „Abschied von einer Zeit vollen und schönen Menschentums“: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.“ Und dann kommt ein nachgerade prophetischer Satz: Weber spricht über den „Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung (...), der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden (...), mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ 

Am Beispiel der Vereinigten Staaten, die er 1904 ausgiebig bereist hatte, konstatiert Weber „das seines metaphysischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben“. Zur rationalen Erwerbsarbeit bedarf es keiner Begründung mehr, schon gar keiner religiösen, wie sie die Puritaner sich noch geben mussten. Webers Sorge ist, dass die immer weiter getriebene Rationalisierung jede transzendentale Sinnstiftung nicht nur überflüssig, sondern unmöglich macht. Erst unter dieser existenziellen Fragestellung bekommt das von ihm mehrfach verwendete, seither millionenfach zitierte Wort vom „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ seine ganze Bedeutung. Es meint nicht einfach nur die voranschreitende Bürokratisierung , sondern weit darüber hinaus die Unausweichlichkeit einer rein diesseitig orientierten Lebensführung.

Das Ende der Magie

Daraus wird deutlich, dass Webers „Protestantismus“-Aufsatz eben keine kausale Erklärung des Kapitalismus darstellt – als solche ist er hinlänglich zerpflückt worden -, sondern dass es bei der puritanischen Askese, die Weber beobachtet, um den Anstoß geht zur „Tendenz zu bürgerlicher, ökonomisch rationaler Lebensführung“, deren historisch konkrete Erscheinungsform eben der Kapitalismus zu Webers eigener Zeit ist. Und nicht einmal dies steht im Mittelpunkt von Webers Erkenntnisinteresse, vielmehr er geht über diesen Punkt imemr weiter hinaus. Denn die Einzigartigkeit des Okzidents – in heutiger Begrifflichkeit: der westlichen Moderne – leitet sich nicht vom Vorhandensein der kapitalistischen Wirtschaftsordnung her, sondern vom „spezifisch gearteten ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“. Der umfasst alle Lebensbereiche, Recht, Musik, die Weber so wichtige Wissenschaft und sogar den privaten Lebensbereich. 

Rationalismus der Weltbeherrschung – Weber sagt es im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von 1917 – ist „das Wissen davon oder der Glauben daran, dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“

"Werte" wählen

Da spricht Weber natürlich von sich, dem Wissenschaftler, als „Fachmenschen“. Der Wissenschaft ist ihrem neuzeitlichen „Betrieb“ der letztgültige „Sinn“ abhanden gekommen; aber nicht nur ihr. „Sinn“ ist verwiesen an die individuelle Lebensführung, in der der „Polytheismus der Werte“ herrscht, bezogen auf unterschiedliche „Wertsphären“ wie Religion oder Politik, aber auch Liebe und Erotik. Werte sind nicht kompromissfähig: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich (...) nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ,Gott‘ und ,Teufel‘.“ Das aber bedeutet, dass „das Leben als Ganzes (...) eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet- „, durch welche sie Seele“ – wie Weber mit Blick auf die Philosophie formuliert – „den Sinn ihres Tuns und Seins (...) wählt“. 

In dieser modernen, in jeder Hinsicht heterogenen Welt sucht Weber Orientierungspunkte für das eigene Tun, für die eigene Lebensführung. Er macht es dem Leser nicht leicht. Stets schränkt er seine Aussagen ein, sucht Einwände und Gegenargumente. Strenge Wissenschaftlichkeit – die berühmte „Werturteilsfreiheit“ – ist sein Ideal, zumal gegen die „Kathederprophetie“ seiner Zeit. Die war ihm ein Gräuel, er hat sie in den hitzigen Debatten seiner Zeit, zumal im Ersten Weltkrieg, hinlänglich erfahren. 

Der Sinn des Lebens

In den vorstehenden Ausführungen sind verschiedene Aspekte von Webers Werk gestreift worden. Aber es sollte deutlich werden, dass es zwischen diesen Aspekten innere Verbindungen gibt – und das gilt für zahllosen weiteren Themen und Fragestellungen, die Weber bearbeitet hat, nicht minder. Weber trieb Wissenschaft bis zum Äußersten – der persönlichen Kräfte sowieso –, aber nicht um der bloßen Anhäufung von Wissen willen: Er erkannte, dass Wissenschaft keine Antwort geben kann auf die Frage nach dem „Sinn“ der Moderne und ihrer Formen. Es bleibt nur, ihrer Eigenart auf die Spur zu kommen. 

Max Webers Werk ist eine Aufforderung, die unaufhebbare Konkurrenz unvereinbarer Wertsphären – „dies Schicksal der Zeit“ – zu ertragen „und der ,Forderung des Tages‘ gerecht zu werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“ Da spricht, so scheint es, Weber sich selber Mut zu. Denn das eben ist der Preis der Entzauberung: sich selbst entscheiden zu müssen, wie und wofür man leben will und welchen „Sinn“ man seinem Leben gibt.

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