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Migration als das Problem der Gegenwart: Ein jeder ist Migrant

Jan Plamper erzählt die Einwanderung nach Deutschland anders.

Jan Plamper ist Historiker, meistens beschäftigt er sich mit der Geschichte der Gefühle. Sein jüngstes Buch gilt der Migration. Für ihn sind alle Menschen Migranten, insbesondere die Deutschen, egal ob Auswanderer, Flüchtlinge, Vertriebene oder Verfolgte. So entsteht auch sein eigenwilliger und nicht immer verzerrungsfreier Blick auf die deutsche Geschichte.

Um den Leser von seiner Vision des „neuen Wir“ zu überzeugen, beginnt Plamper die Analyse nicht in der Gegenwart des deutschen Flüchtlingsalltags seit 2015, sondern geht 300 Jahre zurück, um Deutschland vor dem 20. Jahrhundert als große Auswanderernation zu zeichnen. Beleg: 50 Millionen der 310 Millionen Amerikaner gaben 2011 an, deutsche Wurzeln zu haben. Mehr als eine Million Deutsche folgten ab 1763 dem Aufruf Katharinas der Großen ins Zarenreich. Die Zarin deutscher Herkunft hatte ihnen Wehrdienstbefreiung und reichlich Land versprochen. Neben den Wolgadeutschen gab es die Donau- und Banater Schwaben, Teuto-Brasilieros oder Pennsylvania-Deutschen. Sie wanderten aus Neugier, Not oder Wanderlust aus. Ihre religiöse Überzeugung trieb sie oder einfach nur die Suche nach dem größeren Glück.

Ein Blick in die Geschichte der Migration

Die Erzählung ist gespickt mit Schicksalen Einzelner wie dem Verhalten ganzer Gruppen, etwa der Parallelgesellschaft der Deutschen in Pennsylvania um 1750, die dort nicht unbedingt liebevoll betrachtet wurde. Er lässt auch das Weiterwandern der Russlanddeutschen nicht aus, die wie die pazifistischen Mennoniten nach Südamerika zogen. Deutsche schienen dauernd auf Achse zu sein. Es war leicht, sie anzuwerben und zur Auswanderung zu motivieren, ob durch Peter den Großen oder William Penn. „Die im Charakter des Deutschen beruhende Leichtigkeit, sein Vaterland aufzugeben und sich anderen Nationalitäten unterzuordnen …“ war laut Verein Deutscher Auswanderung anno 1849 ein probater Grund.

Die Auswanderung aus vielfältigen religiösen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen dichtet Plamper generell in Migration um. So auch die große Flüchtlingswelle, die nach 1945 zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus dem Osten in den Westen spülte. Hunderttausende von DPs (displaced persons), Überlebende der Schoah, reiht er mit ein, dazu die evakuierten Städter, die im zerstörten Deutschland unterwegs waren – alles Migranten. Eine dehnbare Nomenklatur. In Plampers Eintopf landen die 14 Millionen Gastarbeiter ebenso wie DDR-Flüchtlinge, vietnamesische Boatpeople, Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge.

Aus- und Einwanderungsland Deutschland

Man merkt die Absicht und wundert sich. Die Auswanderung der Deutschen in früheren Jahrhunderten, die Zuwanderung durch Sudetendeutsche und Schlesier, Türken oder Siebenbürgern dient Plamper nur als Beweis dafür, dass jeder Migrant ist. Dass Deutschland schon immer ein Einwanderungsland war, es aber nicht wahrhaben will. Er nennt diese Weigerung „das Rätsel“. Für ihn ist klar, dass Deutschland sich nach 1945 „schwertat mit Vielfalt und dem Zugeständnis symbolischer Zugehörigkeit zur Staatsbürgernation etwa bei sichtbaren Minderheiten“. Er zitiert die Migrationsforschung, die die „ethnokulturelle Linse“ als typisch deutsch definiert.

Ob Deutschland allein durch die ethnokulturelle Linse schaut, darf bezweifelt werden, wenn man an die gegenwärtigen Umtriebe in Ungarn, Polen, Tschechien oder Österreich denkt – von Japan und China ganz zu schweigen. Selbst die Briten, deren Hauptstadt zum Buntesten gehört, was es auf der Welt gibt, haben an der EU am meisten das Freizügigkeitsgebot gehasst.

"Normalos" spielen bei Plamper keine Rolle

Plamper blendet die Gemütslage der normalen Menschen aus. Für den Durchschnittsbayern oder -schwaben macht es einen Unterschied, ob viele schlesische Familien in seiner Nachbarschaft einquartiert wurden oder neuerdings syrische und nigerianische. Auch wenn die Flüchtlinge aus dem Osten einst ebenfalls nicht mit offenen Armen aufgenommen wurden, war dennoch klar, dass sie alle Deutsche waren, also irgendwie dazugehörten.

Plamper verlässt die nüchterne Differenzierung und träumt: „Wenn man die Vertreibungen zuvorderst als eine von vielen Formen der Migration sieht und sie einpasst in ein Selbstverständnis der Deutschen als Nation von Migranten. Wenn deutsche Vertriebene zu einer Migrantengruppe unter vielen würden, nicht wichtiger und nicht höher gestellt als Migranten aus Eritrea, Spanien, der Türkei oder Kasachstan, dann wäre viel gewonnen.“ Gewiss doch, aber die Realität von Verweigerung und Abwehr sieht dunkler aus. Die Vorstellung des Autors, wonach Migrationsfreiheit und offene Grenzen den wahren Fortschritt kennzeichnen, sehen viele Verunsicherte eher als Verlust. Die Realität unserer Zeit sind Abschottung und Nationalismus. Hier wird der abwägende Historiker abgelöst vom wohlgesinnten Mahner mit einer erzieherischen Mission.

Ein steiniger Weg liegt vor der deutschen Gesellschaft

Sarrazin oder die AfD zu widerlegen, ist kein Kunststück. Doch die deutsche Wirklichkeit und den steinigen Weg in eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft auszublenden oder wegzuwünschen, beeinträchtigt die beachtliche Leistung der restlichen Teile des Buches.

Jan Plamper: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 391 S., 20 €.

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