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Nach der "Kampfzeit" ein geregelter Alltag: Familienväter im Braunhemd

Daniel Siemens erzählt die Geschichte der SA und betont ihre Bedeutung für die „Volksgemeinschaft“.

Das Bild vom Fackelzug der SA durchs Brandenburger Tor am Abend des 30. Januar 1933 hat sich als Sinnbild der Machtergreifung Hitlers eingeprägt. Nun schien die Macht ganz bei den Braunhemden zu liegen. Doch nur anderthalb Jahre später verlor die SA, die als „Sturmabteilung“ 1920 gegründete Schutz- und Schlägertruppe der NSDAP, in der Folge des sogenannten „Röhm-Putsches“ihre bisherige Bedeutung.

Immerhin zählte die SA vor dem Juni 1934 rund drei Millionen Mitglieder. Sie war zur größten und im Wortsinne schlagkräftigsten Massenorganisation der Weimarer Republik herangewachsen; nun, nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, schien sie die erste Macht im Staate zu sein. Aber die SA unter ihrem „Stabschef“ Ernst Röhm wurde zunehmend unruhig. Ihre Führung forderte eine „zweite“, die eigentlich „nationalsozialistische Revolution“ nach der Machtübernahme. Die SA drohte Hitler aus den Händen zu gleiten; undenkbar bis dahin, wo mit Röhm einer der „Alten Kämpfer“ an der Spitze stand, ein Nazi der ersten Stunde und mit Hitler seit dem gemeinsamen Münchner Putschversuch vom 9. November 1923 aufs Engste verbunden.

Saalschlachten und Überfälle

Die Jahre vor 1933 waren die große Zeit der SA. Die Saalschlachten, die sie sich mit Andersdenkenden der Weimarer Zeit lieferte, haben das Bild einer proletarischen, von Arbeitslosen und Randständigen geprägten SA geprägt. Es entspricht, wie Daniel Siemens in seinem jetzt erschienenen Buch „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“ belegt, nicht den Tatsachen. Die SA war ebenso in ländlichen Gebieten verankert. Ihre Mitglieder waren Normalbürger, denen organisierte Betätigungen und „Kameradschaftsabende“ zusagten, ohne dass sie von ihren traditionellen sozialen Bindungen abließen: „An die Stelle des weitgehend ungebundenen ,Gewaltmenschen’, der bis 1934 als typische Ausprägung des einfachen SA-Mannes gegolten hatte, trat nun der Parteifunktionär, der das braune Hemd nur noch an ein bis zwei Tagen in der Woche überzog und ansonsten einer geregelten Arbeit nachging und ein Familienleben hatte.“

Was war der "Röhm-Putsch"?

Die SA spielt in der Literatur zum NS-Regime und seiner 14-jährigen Vorgeschichte keine herausragende Rolle. Siemens füllt diese Lücke, nachdem Peter Longerich bereits 1988 das Buch „Die braunen Bataillone. Geschichte der SA“ vorgelegt hat. Auch bei Siemens bildet selbstverständlich der Röhm-Putsch den Wendepunkt sowohl der SA-Historie als auch des beginnenden „Dritten Reichs“.

Die Ereignisse des 30. Juni 1934 sind, etwa seit dem Buch des in Berlin gebürtigen Historikers Charles Bloch von 1970 über „Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934“, weitgehend erforscht. Ungeklärt bleibt, wie der zögerliche Hitler zum nächtlichen Aufbruch nach München bewogen wurde, wo er in bemerkenswerter Entschlossenheit die nach Bad Wiessee beorderte SA-Spitze überrumpelte und verhaften ließ, weitere, aus ganz Deutschland herbeibefohlene SA-Führer dann in München. Noch in der Nacht sowie am folgenden Tag wurden die SA-Führer erschossen – und zahlreiche Hitler-Gegner aus dem konservativen Lager wie der letzte Reichskanzler vor Hitler, Kurt von Schleicher, gleich mit; in Berlin, wo der preußische Ministerpräsident Hermann Göring über die Polizei gebot. Einen Putschversuch Röhms hat es auch nicht im Ansatz gegeben. Longerich nannte die SA eine „verhinderte ,Revolutionsarmee’“. Gehorsam folgten die verstörten SA-Leute den Befehlen Hitlers und ließen sich widerstandslos verhaften.

Von wegen "pervers"

Siemens rückt das Bild zurecht, das die Propaganda sofort verbreitete und das sich nicht nur damals, sondern bis weit in die Nachkriegszeit, wenn nicht bis heute erhalten hat. Es ist das Bild einer verkommenen, homosexuellen SA-Führung, das Goebbels geschickt ausstreute und das Hitler als Ordnungsstifter hervortreten ließ. „Auch wenn die Annahme, etliche Männer in der SA-Führung seien schwul, in den zwei Jahren nach dem ,Röhm-Skandal’ an Breitenwirkung gewann, waren es letzten Endes die Nationalsozialisten selbst, die diese Wahrnehmung erst in den Rang eines langfristig wirksamen Klischees erhoben.“ Nun wirkten sich ausgerechnet die Anwürfe des politischen Gegners aus: „Die Gerüchte und Enthüllungen der frühen 1930er Jahre bereiteten den Boden für die vom Regime 1934 ausgegebene Parole, in der SA-Führung tummelten sich etliche ,Perverse’“.

Was die politischen Folgen der Mordaktion angeht, folgt Siemens der etablierten Sicht. Die einmal vorgenommene Suspendierung des Rechts, durch das absurde, rückwirkende Gesetz vom 3. Juli legalisiert, schuf jenen „Doppelstaat“, von dem schon der Exilant Ernst Fraenkel sprach. Nicht zuletzt Carl Schmitt beförderte diese Entwicklung argumentativ mit seinem wegweisenden Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“. Dieser Umschwung hat seine gültige Darstellung bei Karl Dietrich Bracher gefunden, „Die deutsche Diktatur“ von 1968. Bracher lenkte den Blick von der SA weg auf die Wehrmacht, ohne deren „aktive Mitwirkung (...) der rasche und endgültige Umbau zum totalitären Führerstaat nicht zu denken“ sei.

Die Rolle der Wehrmacht

Siemens bleibt in diesem entscheidenden Punkt eher blass. Auch übergeht er die außenpolitischen Auswirkungen der Mordaktion. Der britische Botschafter in Berlin notierte – wie Charles Bloch zitiert –, „mit der Liquidierung der SA sei eines der wichtigsten Hindernisse für ein Rüstungsabkommen gefallen“. So bildete das deutsch-britische Flottenabkommen vom folgenden Jahr einen weiteren Schritt zur Remilitarisierung Deutschlands.

Siemens geht es um den Wandel, den die durch den „Putsch“ in den Augen der Bevölkerung herabgewürdigte SA durchmacht. Nach Jahren der Orientierungslosigkeit und eines erheblichen Mitgliederschwundes findet sie zu früheren Formen öffentlicher Gewalt zurück. „Die antijüdischen Ausschreitungen wirkten wie ein Ventil für die Aggression und den Frust der SA-Männer“, schreibt Siemens. Bereits Longerich hatte formuliert: „Vielmehr fand hier ein eruptiver Ausbruch eines in den vergangenen Jahren durch Beschäftigungstherapie, Ablenkungsmanöver, soziale Befriedung und Dezimierung nur mühsam unter Kontrolle gehaltenen Gewaltpotentials statt.“ Siemens fährt fort, „Die Braunhemden selbst konnten sich in ihrer Überzeugung, dass die SA zur Erzieherin der deutschen Massen berufen sei, bestätigt fühlen. Aus dieser Perspektive trug die antijüdische Gewalt der SA entscheidend dazu bei, eine politisch loyale ,Volksgemeinschaft’ zu schaffen.“

Angriffe auf Juden

In der als „Reichskristallnacht“ verharmlosten Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war die SA zwar vorneweg dabei, aber beileibe nicht als einzige Organisation. Siemens betont zudem, „dass selbst viele SA-Männer den Daseinszweck ihrer Organisation nicht auf Ausschreitungen gegen Juden reduziert sehen wollten“, und SA-Chef Lutze, der Nachfolger des ermordeten Röhm, musste privat eingestehen: „Viel Staub im Ausland aufgewirbelt, aber selbst im Inland gegen die Meinungen auseinander.“

Siemens weitet den Blick auf die SA durch die Erhellung ihrer späteren, erstaunlichen Aktivitäten im Südosten Europas: „Die SA hatte mittels ihrer ,SA-Diplomaten’ – Männer aus den höchsten Rängen der SA, die in den frühen 1940er Jahren als deutsche Gesandte in die Hauptstädte der deutschen Vasallenstaaten im Südosten Europas geschickt wurden – sogar Einfluss auf die deutsche Außenpolitik. Diese SA-Generäle waren versierte Gewaltexperten und direkt an der Durchführung des Holocaust in den jeweiligen Ländern beteiligt.“ Ansonsten blieb die SA auf die Rolle einer Hilfseinrichtung reduziert. Gegen Kriegsende war sie gerade noch gut genug, dem „Volkssturm“ notdürftige Kenntnisse im Waffengebrauch zu vermitteln. Schließlich richtete sich die Gewaltbereitschaft gegen die eigenen „Volksgenossen“: „Die langjährige Indoktrinierung der SA-Männer zeigte in Verbindung mit ihrer militärischen Ausbildung tödliche Wirkungen – bis zum bitteren Ende.“

Endlich etwas "darstellen"

Aufs Ganze gesehen, so Siemens, „flößte“ die SA „Millionen von Männern jeden Standes und jeden Alters das Selbstbewusstsein und den Mut ein, die nationalsozialistische Politik zu ihrer eigenen, höchstpersönlichen Sache zu machen. Sie eröffnete ihnen die Chance, sich materiell abzuheben (...) und sich als wertvolle Mitglieder der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu fühlen.“ Es war dies ein Gefühl, das weit über 1945 hinaus anhielt.

Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Siedler Verlag, München 2019. 592 S. m. 34 Abb., 36 €.

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