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Grenzkontroll-Schild für reisende Bürger der Europäischen Union und der Schweiz

© imago/fossiphoto

Nicht zu klein, nicht zu groß: Neoliberal überformt

Dirk Jörke sucht nach der idealen Größe eines Gemeinwesens für das Gelingen von Demokratie.

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament wurden von den Parteien mit inhaltslosen Parolen beworben. Offenbar geben sich nicht einmal mehr diese politischen Akteure der Illusion hin, in Brüssel werde irgendetwas parlamentarisch-demokratisch erstritten und entschieden. Schon zuvor hatte der Darmstädter Politikwissenschaftler Dirk Jörke seinen „politisch-wissenschaftlichen Essay“ mit dem Untertitel „Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation“ abgeschlossen, der genau diesen Verdacht bekräftigt.

Das Problem ist die Größe der Europäischen Union, sowohl hinsichtlich ihrer Ausdehnung wie ihrer Zuständigkeit. „Es drängt sich (...) die Frage auf“ – schreibt Jörke –, „ob nicht mittlerweile ein Grad der Supranationalisierung erreicht ist, der die nationalstaatlichen Demokratien aushöhlt, ohne dass dies auf der europäischen Ebene kompensiert werden könnte.“ Die Frage stellen, heißt sie bejahen: „Denn erstens kann in großen Räumen effektive politische Gleichheit nur unzureichend verwirklicht werden.“ Damit knüpft Jörke an die angelsächsische Theorie, etwa von John Dewey, an. Jörke fährt fort: „Zweitens besteht eine größere räumliche, soziale und kulturelle Kluft zwischen den politischen Eliten und einem Großteil der Bürgerschaft. Drittens ist es in großen Herrschaftsräumen infolge der dort vorhandenen Interessengegensätze und unterschiedlichen kulturellen Prägungen schwieriger, gemeinsame Ziele überhaupt zu formulieren, geschweige denn zu realisieren.“

Teilhabe und gleiche Lebensverhältnisse

Für diesen Befund liefert die EU, wohin man auch blickt, reiches Anschauungsmaterial. Jörke sucht aber den Urgrund der Unzulänglichkeit der EU (oder gleich welchen Verbundes). Er stellt die Demokratie in den Mittelpunkt; nicht im Sinne „immer elaborierterer Konzepte“ der akademischen Diskussion, sondern im Sinne ihrer praktischen Ausübung.

Dabei unterscheidet er „zwei Versprechen der Demokratie“: „das prozedurale Versprechen der gleichen und effektiven Teilhabe am politischen Prozess sowie das substanzielle Versprechen einer Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse“. Schon diese Vorwegdefinition lässt erkennen, dass die EU defizitär ist – denn wenn sie etwas nicht nur nicht geschaffen hat, sondern prinzipiell unfähig ist zu schaffen, dann sind es gleichartige Lebensverhältnisse. Die Ursache ist der Neoliberalismus, mithin der Rückzug des Staates aus seiner Vorsorgepflicht, ablesbar an der umfassenden Privatisierung aller Infrastruktureinrichtungen, wie dies in der EU weithin durchgesetzt wurde.

Jörke verweist auf die „zunehmend expansive“ Auslegung der EU-Verträge: „So wurde mit den Verträgen von Maastricht und Lissabon, also in einer Zeit der unangefochtenen Hegemonie des Neoliberalismus, eine Wirtschaftsordnung etabliert, die faktisch nicht veränderbar ist.“ Dass dies eine „aus demokratietheoretischer Perspektive eindeutig negative Entwicklung“ ist, liegt auf der Hand.

[Dirk Jörke: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Suhrkamp Verlag (es 2739), Berlin 2019. 282 S., 18 €.]

Nicht alle Bürger profitieren von den Freizügigkeiten, die die EU zum Mittelpunkt ihrer Politik, ja zu ihrer raison d’être erklärt hat (wie die Haltung gegenüber dem britischen Brexit-Begehren bezeugt), in gleicher Weise. Hier stützt sich Jörke auf Untersuchungen wie die von Andreas Reckwitz oder David Goodhart, die eine Klasse von akademischen, urbanen, flexiblen und mobilen Individuen als Gewinner der Globalisierung ausmachen. „Liberale Modelle, die vor allem die Rechte der Individuen betonen (...), können sich mit mehr Diversität, einem schwächeren Gemeinschaftssinn und weniger Sozialstaatlichkeit zufriedengeben. (...) Ein republikanisches Verständnis von Demokratie setzt demgegenüber einen höheren Grad an sozialer, nicht notwendig ethnischer, Homogenität und kollektiv geteilter Werte voraus.“

Bürger müssen sich als Teilhaber empfinden

Zudem gibt Jörke zu bedenken, eine solche stärkere Identifikation scheine „eine entscheidende Bedingung für die Bereitschaft zu sein, die Lasten des Sozialstaates zu tragen“. Das schließt an die von Julian Nida-Rümelin formulierte Auffassung von „Republikanismus“ an: „Nationalstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit“ – so Nida-Rümelin jüngst – „schwächen kommunitäre Bindungen ab, weil sie einen eigenen Status als Bürgerin einer Nation oder eines Sozialbürgers stiften, der von kommunitären Bindungen unabhängig ist.

Das ist der Kern der republikanischen Kritik am Multikulturalismus.“Demgegenüber hat die „liberal-kosmopolitische Kritik an sozialen Identitäten und nationalen Gemeinschaften“ – so Jörke – „wesentlich zum Durchbruch des Neoliberalismus beigetragen, nicht zuletzt, weil diese vermeintlich linke Kritik am Staat – zu exklusiv, zu bürokratisch, zu patriarchal – mit der liberalen Kritik am sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat fusionieren konnte“. Über die von der EU verfügte Austeritätspolitik ist das neoliberale Konzept bekanntlich in allen Mitgliedsstaaten exekutiert worden.

Mehr Demokratie wagen

Einen Ausweg aus einer solcherart ökonomisierten EU zu finden, ist kaum möglich. „Europa braucht ohne Zweifel mehr Demokratie, doch das lässt sich auf dem bislang eingeschlagenen Weg einer ,immer engeren Union‘ nicht bewerkstelligen“, konstatiert Jörke. Stattdessen schlägt er eine „europäische Konföderation“ vor, deren supranationale Kompetenzen sich auf „die Verteidigungs-, die Umweltschutz- sowie die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik“ erstrecken sollten.

Insbesondere die Wirtschafts- und Sozialpolitik hingegen sollte auf die Ebene der Einzelstaaten zurückverwiesen werden – denn gerade die Zentralisierung habe „in vielen europäischen Staaten nicht nur zu einer zunehmenden sozialen Spaltung, sondern auch zu einer massiven Krise der Demokratie geführt“.

Das Plädoyer für die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene ist wohlbegründet: „Demokratische Souveränität hat ihren Ort einzig auf der Ebene der Einzelstaaten, denn nur dort ist eine effektive demokratische Politikgestaltung und Kontrolle möglich“, fasst Jörke sein Konzept des smaller is better zusammen. Und das Europaparlament, das doch in den Mitgliedsstaaten der EU lediglich nach den jeweiligen nationalen Wahlergebnissen beurteilt wird? „Entsprechend bedarf es auch keines direkt gewählten europäischen Scheinparlaments.“ Wie gering die Legitimation ist, die dem Europäischen Parlament von den Bürgern Europas zugebilligt wird, muss man kaum darlegen. Die technokratische EU ist zum Zerrbild Europas geworden.

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