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Per Olov Enquists Autobiografie: Auszug des Dichters

Per Olov Enquist erzählt in „Ein anderes Leben“, wie die Literatur ihn vor dem Alkoholismus rettete

Im Februar 1990 beginnt für den schwedischen Schriftsteller Per Olov Enquist ein neues Leben. Vier Tage und Nächte befindet er sich in einer dänischen Entzugsanstalt, in einem Zimmer mit einem dicken jütländischen Bauern, der nachts so laut schnarcht, dass Enquist nicht zur Ruhe kommt. In der fünften Nacht dann kramt er seinen Laptop hervor und fängt an zu schreiben, den Roman „Kapitän Nemos Bibliothek“, dessen Titel er ein Jahr zuvor in einem Hotelzimmer in Brighton notiert hatte, ohne weiterzukommen: „Der Titel von etwas, was jetzt beinah ganz sicher ein unmöglicher Roman ist“, wie er damals glaubte.

Es ist „ein anderes Leben“, über das Per Olov Enquist in seiner Autobiografie schreibt. Enquist erzählt darin von seinem gesamten Leben vor dem Alkoholismus, an dem er erkrankt, und von dem dann folgenden, alkoholdurchtränkten Leben, bis der dritte Entzug gelingt und er sein „Buch über die Auferstehung“ beginnt. Alles, was danach kommt, die vielen Jahre als „Totalabstinenzler“, die großen späteren Erfolge mit Romanen wie „Der Besuch des Leibarztes“ oder „Das Buch von  Blanche und Marie“, all das spielt sich auf einem anderen Planeten ab und kommt nicht zur Sprache.

Insofern ist „Ein anderes Leben“ eine unvollständige Autobiografie – das Buch hat bisweilen den Charakter einer Beichte, den einer intimen Selbstbefragung. Und es liest sich dann wieder wie ein Roman, wie der Lebensroman eines Schriftstellers, nicht zuletzt, weil Per Olov Enquist von sich in der dritten Person erzählt, von dem Anderen, der er gewesen ist.

Die Aufenthalte in den Entzugskliniken in Schweden, Island und Dänemark sind der Schlusspunkt, auf sie läuft alles hinaus. Hier glaubt Enquist wie lange zuvor kraft seines Intellekts, seiner Befähigung zur Selbstanalyse, alles im Griff zu haben. Hier wird er andererseits immer wieder dazu animiert, sich einzugestehen, dass er sein altes Leben verwirkt habe. „Er hatte erfolgreich sein Leben verteidigt, und aufgegeben“ – zwischen diesen Polen bewegt sich Enquist. An Intensität und Dichte lässt die Beschreibung dieses zwiegespaltenen Zustandes nichts zu wünschen übrig; eines Zustandes zwischen Selbstzerstörung und Selbstbehauptung, zwischen alkoholischen Dämmerphasen und einer Klarsicht, die auch nur die Legitimation zum Immer-So-Weitermachen und Weitertrinken ist.

Ein Kind soll er wieder werden, bemerkt er einmal entsetzt, und klar ist, dass Enquist auch jetzt, fast zwanzig Jahre später, auf Ursachen- und Spurensuche ist. Er erzählt, wie alles begann im schwedischen Norrland, wo er 1934 zur Welt kommt, tausend Kilometer von Stockholm entfernt, als Sohn einer strenggläubigen Lehrerin und eines Vaters, der gleichfalls gern dem Alkohol zusprach und der an einer seltenen Erbkrankheit stirbt, als Enquist ein halbes Jahr alt ist. Diese Familiengeschichte hat es in sich: Da gibt es den bei der Geburt gestorbenen Bruder, der auch Per Ola heißen sollte, da gibt es eine mysteriöse Kindsverwechslung in der Verwandtschaft, und da gibt es die Pflegeschwester Eeva Lisa, die er über alles liebt.

Nun hat Enquist ja in Romanen wie „Auszug der Musikanten“ und gerade „Kapitän Nemos Bibliothek“ schon Auskunft gegeben über sein frühes Leben, seine dörfliche, pietistisch geprägte Kindheit, fiktiv zwar, aber gut erkennbar. Doch wie er das in diesem Buch ein weiteres Mal macht, offener, ungeschützter, das ist berührend und nicht weniger kunstvoll. Das entfaltet gerade in dem spröden, unsentimentalen Ton, den Enquist anschlägt, durch seine nüchterne, einfache Sprache, eine unglaubliche Intensität. Und nicht zuletzt durch die Geschichten, die er erzählt, etwa über seine Urgroßmutter, die sechs ihrer Kinder verliert und versucht, daran irre geworden, auch ihr siebtes zu töten. Oder über den Großvater, der sich auf seine einzige große Reise macht, nach Stockholm, um bei einer Pelztierausstellung seinen Kreuzfuchs zu präsentieren.

Enquist fühlt sich früh von Erzählern umstellt, in seinem Heimatdorf, in seiner Verwandtschaft. Und er fragt sich, warum er Schriftsteller geworden ist, obwohl die Mutter anderes für ihn vorsah: „Verkünder“ sollte er werden, Pastor halt. Was folgt, ist ein sanftes Aufbegehren, die Geschichte einer Emanzipation: Der junge Per Olov macht sich daran, eine akademische Laufbahn zu beginnen und „den Glauben wegzustudieren“.

So man überhaupt von einem schwächeren Teil sprechen kann, dann ist es dieser zweite des Buches, den Enquist mit „Ein hell erleuchteter Platz“ überschrieben hat. In diesem berichtet er vom Studium in Uppsala, seiner Freundschaft mit Lars Gustafsson, den Jahren in Berlin und New York, in Schweden und Dänemark. Enquist ist in seinen Anfängen das, was man einen politisch engagierten Schriftsteller nennt, nie radikal, weniger sozialistisch als sozialdemokratisch orientiert. Spannend liest sich, was sein Roman „Die Ausgelieferten“ an Diskussionen auslöst, wie schwierig die Vorarbeiten dafür waren. Es geht darin um die Auslieferung baltischer, nach Schweden geflüchteter Nazi-Kollaborateure an die Sowjetunion. Weniger spannend für den Leser, eher öde-kleinklein sind die politischen Kämpfe, in die der Dichter in den siebziger Jahren verwickelt wird.

Umso erfolgreicher er aber als Theaterautor wird, dessen Stücke überall auf der Welt gespielt werden, desto mehr gerät Enquist in die Fänge des Alkohols. „Man hofft ja immer wieder auf ein Wunder“, zitiert er aus seinem „Nemo“-Roman. Die Literatur sorgt dann für dieses Wunder. Das ist vielleicht einen Tick zu einfach, einen Tick zu kulturreligiös – doch so wie Enquist von diesem Wunder erzählt, so wie er seine eigene Künstlerbiografie gestaltet, mit Vor- und Rückblenden, mit Leitmotiven, die das Buch von Anfang bis Ende unaufdringlich, aber effektvoll strukturieren, ist man nur allzu geneigt, an Wunder zu glauben. Oder wenigstens an Leben, die ganz neu beginnen können.

Per Olov Enquist: Ein anderes Leben. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Hanser Verlag, München 2009.

544 Seiten, 24, 95 €.

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