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Poesiefestival: Unter Argonauten

Vom Englischen ins Deutsche, vom Deutschen ins Französische: Beim abendlichen "Versschmuggel" während des Berliner Poesiefestivals wanderten die Gedichte frei zwischen den Sprachen hin und her.

Von Gregor Dotzauer

Wer klagt, der träumt. Alles, so meint der Jammernde, könnte anders sein, als es sich in der grausen Wirklichkeit verhält. Schon deshalb ist Klagen, wie die Lyrikerin Sabine Scho bei einer Podiumsdiskussion des Berliner Poesiefestivals feststellte, eine urliterarische Tätigkeit. Der Wunsch ihrer Kollegin Ulrike Draesner, beim Blick auf die „Lage des Gedichts in Deutschland“ könne jetzt aber auch einmal „Schluss mit Klagen“ sein, wird sich also nicht so schnell erfüllen.

Womit überhaupt zufrieden oder unzufrieden sein? „Dichtung aus Deutschland gehört zum Besten, was auf der Welt geschrieben wird“, behauptet so schief wie selbstbewusst das Programmheft. Ob dabei auch Hege und Aufzucht junger Lyriker und die Pflege der Älteren in der besten aller möglichen Welten stattfinden, ist eine andere Frage. Sie wurde leider nach Kräften vermengt – unter Dichtern, die Teil jenes „poor poets jet set“ sind, der Draesner zufolge Glanz und Elend des Berufsstandes markiert, ist das allerdings kein Wunder: Zu Lesungen und Festivals trägt der Jet Set sie zwar gratis in der Sänfte bis unter die letzte Kokospalme, lässt sie zu Hause aber gern im Stich.

Doch muss man deshalb gleich wieder nach Subventionen schreien? Wollen wir auch in Deutschland einen poeta laureatus wie in England? Einen Dichter in Staatsdiensten, der zum Geburtstag der Kanzlerin einen Verskratzfuß macht und in jambischen Gesängen ihre Anmut preist oder zum Volkstrauertag im Anschluss an die Tagesschau eine Elegie verliest?

Er höre immer nur Staat, Staat, Staat, erklärte der Lyriker Uwe Kolbe, den man gewiss nicht verdächtigen kann, Literatur unter das Diktat der Ökonomie stellen zu wollen. Es braucht wahrscheinlich eine gesunde Mischung aus dem Bewusstsein, für die eigenen Geschicke letztlich selbst sorgen zu müssen, und einer kollektiven Verantwortung für das, was einer Gesellschaft am kulturellen Herzen liegt. Sage niemand, dass diese Spannung in anderen Ländern geringer sei. In Kanada zum Beispiel, dem das Festival seinen Schwerpunkt widmet, mögen die meisten der von dort Eingeladenen ein Auskommen als Dozenten oder Redakteure haben. Dafür bewegen sie sich zwischen frankophonen und anglophonen Tendenzen durch ein besonders von Québecs chauvinistischer Kulturpolitik gefördertes Minenfeld.

Auf exterritorialer Bühne lässt sich darüber friedfertig und einvernehmlich diskutieren. Ja, dass Gedichte so frei zwischen den Sprachen hin und her wandern wie beim abendlichen „Versschmuggel“, wäre in Montréal kaum vorstellbar: vom Englischen ins Deutsche, vom Deutschen ins Französische. Eine Polyphonie, die Ken Babstock aus Toronto noch dadurch steigerte, dass sein von Lutz Seiler übersetztes Gedicht „The World’s Hub“ (Die Radnabe der Welt) aus seinem jüngsten Gedichtband „Airstream Land Yacht“ (Anansi) wiederum die Überschreibung eines italienischen Poems von Pier Paolo Pasolini war. Der 1970 in Neufundland geborene Babstock, der als größtes Talent der kanadischen Lyrik in den letzten Jahren gilt, nahm dafür Seilers über die Berliner Fußballplätze segelndes Argonautengedicht „die fussinauten“ mit nach Hause.

„Nicht arm, doch auch nicht reich“, beginnt das Gedicht des früheren Rockgitarristen, „so lebte ich / in einer vorstadt, weiter draußen, unwichtig, bis auf / das malvenblaue blitzen in den fensterscheiben // entlang der ausfallstraßen, nicht land und doch nicht stadt. // Ein jeder unterwegs wohin auch immer in den grenzen ihres nichts“. Ein Mann, an dem man glatt die nachmittags geäußerte These erproben könnte, derzufolge die Bands der Hamburger Schule ihre Gitarren gar nicht erst umgeschnallt hätten, wenn sie ihre Texte dichter hinbekommen hätten.

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