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Literatur: Politik des Schmerzes

Pathos, Poesie, Parteilichkeit: John Berger berichtet von Überleben und Widerstand

Von Gregor Dotzauer

Drei Sätze, und der Ton ist da. Eine persönliche Erinnerung: „Eqbal Ahmed war, glaube ich, ein Mensch, der das Leben als Ganzes sah.“ Eine apodiktische Feststellung: „Die Zeit der Sieger ist stets kurz, die der Besiegten dagegen auf unerklärliche Weise lang.“ Und eine poetische Abschweifung: „Später stoße ich auf ein Gedicht von Zakaria Mohammed, Das Gebiss. ‚Was kaut das schwarze Pferd?’ / fragt er. / Was kaut es? / Das schwarze Pferd / kaut / ein Gebiss, geschmiedet aus Eisen / und aus Erinnerung, /auf dem es herumbeißt, / herumbeißt bis zum Tod.’“

John Bergers Essays entfalten ihr stilles Pathos im zuverlässigen Dreischritt von radikal subjektivem Ausgangspunkt, weltumspannender Diagnose und Anrufung künstlerischer Schutzgeister – nicht notwendig in dieser Reihenfolge, aber immer im Bewusstsein, dass jedes Element die beiden anderen braucht und sich darin spiegelt. Weshalb Eqbal Ahmed, auf dessen Spuren Berger Ramallah bereist, zu einem Mann erklärt wird, der früh lernte, „dass Trennungen im Leben unvermeidlich sind. Das wusste jeder, bevor die Kategorie des Tragischen als Unsinn abgetan wurde.“ Weshalb sich Berger „vorbehaltlos mit der gerechten Sache“ der Palästinenser identifiziert, „mit dem Schmerz derer, die vom Staat Israel auf tragisch totalitäre Weise gequält werden“. Und weshalb er in Mohammeds Versen einen kleinen Jungen entdeckt, der ihn wiederum an denjenigen erinnert, der ihm am Vormittag einen Strauß wilder Minze gepflückt hat: „Leicht vorstellbar, dass der Junge sich der Hamas anschließt, wenn er sieben Jahre älter ist, bereit, sein Leben zu opfern.“

John Berger hatte diesen Ton von seinen ersten Büchern an, und die 14 kurzen, zwischen November 2001 und Juni 2006 entstandenen Essays, die nun unter dem Titel „Mit Hoffnung zwischen den Zähnen“ versammelt sind, knüpfen genau dort an, wo er 1958, mit 32 Jahren, als Erzähler debütierte. Schon der Roman „Die Spiele“ (A Painter of Our Time), der in den fiktiven Tagebuchnotizen eines ungarischen Malers im Londoner Exil eine neomarxistische Ästhetik entfaltet, bekämpfte die „amoralische Vorhölle, in der wir leben und in der jeder Versuch, Kunst mit sozialer Verantwortung und moralischer Haltung zu verbinden, sofort verlacht und parodiert wird“. Und die Vergötzung der Warenwelt war Berger damals bereits aus anthropologischen Gründen tief verhasst.

Die Auslagen der Geschäfte, klagte Berger, hätten den Platz eingenommen, der einst der Skulptur im antiken Griechenland und dem Fresko im Italien der Renaissance zugekommen sei. Heute klingt das noch viel bitterer: „Der Konsumismus, gegenwärtig die mächtigste und alles beherrschende Ideologie auf dieser Welt, will uns einreden, der Schmerz sei ein Unfall, gegen den wir uns versichern könnten. Hier liegt der tiefere Grund für die Mitleidlosigkeit dieser Ideologie.“

Wenn man Bergers Entwicklung über ein halbes Jahrhundert Revue passieren lässt, weiß man nicht, ob man bewundern soll, wie treu sich dieser Mann geblieben ist, oder ob man sich die Haare raufen muss, mit welch manichäischem Bewusstsein er die Verfinsterung der Welt um sich herum beobachtet. Beides ist weniger ein politisches als ein literarisches Problem: Es geht nicht um die Haltung, sondern um die Genauigkeit, mit der er sie bewahrt. Berger, der sich die Frage „Sind Sie immer noch Marxist?“ in seinem neuen Buch mit „Ja, unter anderem bin ich immer noch Marxist“ beantwortet, ist gegen die Versuchungen eines linken Totalitarismus gefeit, nicht aber dagegen, seine analytischen Fähigkeiten durch seherische zu ersetzen – und die Verschwörung eines undurchdringlichen Systems zu wähnen, statt konkrete Kapitalinteressen nachzuweisen.

Wo Bergers unverwechselbarer Ton daher zur Masche wird, wo sein unzeitgemäßes, jede Ironie scheuendes Pathos mit dröhnendem Kitsch ringt und wo die Gedanklichkeit seiner Texte von rhetorischen Effekten überwältigt wird – das lässt sich nicht nur in den aktuellen „Berichten von Überleben und Widerstand“ oft kaum entscheiden. Bergers beste Bücher, der Essay „Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos“ oder der Erzählungsband „SauErde“, dem Auftakt zu der Trilogie „Von ihrer Hände Arbeit“ über das Verschwinden der bäuerlichen Welt, ließen daran nie einen Zweifel aufkommen: Das Ungesagte blieb klingend in der Schwebe, und die gravitätische Schlichtheit seiner Sätze bewegte sich ruhig dahin.

Doch wie mager und fragwürdig der analytische Gehalt mancher neuer Aufsätze auch sein mag – sie stehen für eine Empfindlichkeit, an der sich festzuhalten lohnt. „Es sind nicht nur Tier- und Pflanzenarten, die heute vernichtet werden oder vom Aussterben bedroht sind“, schreibt Berger über Pasolinis Essayfilm „La Rabbia“ (Der Zorn) aus dem Jahr 1963 , „sondern Stück für Stück auch unsere menschliche Werteordnung. Sie wird systematisch besprüht – nicht mit Pestiziden, sondern mit Ethiziden – Wirkstoffen, die die Ethik und damit jeden Sinn für Geschichte und Gerechtigkeit töten. Die Massenmedien versprühen diese Ethizide Tag und Nacht.“

Berger selbst gehört zu einer bedrohten Art. Wer könnte wie er ein von kommunistischen Orthodoxien beschädigtes Vokabular noch in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Der Schmerz. Die Verzweiflung. Die Ungerechtigkeit. Die Hoffnung. Die Brüderlichkeit. Beharrlich durchziehen diese Wörter John Bergers Essays, mal nackt, mal belebt durch Geschichten – doch immer in der Gewissheit, dass es nichts Schlimmeres gibt, als das Elementare der Erfahrungen zu vergessen, die sich hinter ihnen verbergen.

John Berger: Mit Hoffnung zwischen den Zähnen. Berichte von Überleben und Widerstand. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Wagenbach

Verlag, Berlin 2008. 144 Seiten, 15,90 €.

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