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Harald Weinrich

© dpa

Porträt: Unsere Zeit ist knapp

Zum 80. Geburtstag des großen Sprach- und Literaturwissenschaftlers Harald Weinrich.

Es gibt nur einen Harald Weinrich, und der wird heute achtzig. Aber von diesem gibt es mehrere. Zunächst, um es keinesfalls zu vergessen, ist dieser große Gelehrte auch ein bemerkenswerter Schriftsteller. Da ist der berühmte Weinrich-Sound, sein Stil, der ihn hervorhebt unter so vielen anderen deutschschreibenden Gelehrten. Er schreibt klar, anmutig, sogar heiter gelöst, aber diese Gelöstheit ist immer durch Ernst, die römische Mannestugend der gravitas, gezügelt. Da ist etwas von Spiel, aber gar nicht jenes Verspielte, das uns heute vielfach entgegentritt, bei denen, die den Unterschied zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben nicht anerkennen und dann beides liefern: schlechte Wissenschaft und schlechte Literatur.

Da ist zunächst der große Sprachwissenschaftler. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er einer der ersten, die den Strukturalismus aufnahmen. So in „Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte“ – seiner Habilitationsschrift. Von diesem Weinrich ist vor allem sein Buch „Tempus – Besprochene und erzählte Welt“ zu nennen, das 1964 zum ersten Mal erschien. Mit diesem Buch ging er bereits in Richtung „Textlinguistik“. Hierher gehören seine dicken Grammatiken: „Textgrammatik der französischen Sprache“ (1982) und „Textgrammatik der deutschen Sprache“ (1993).

Zweitens ist Weinrich der Mitbegründer des Universitätsfachs „Deutsch als Fremdsprache“. Drittens aber ist er auch Literaturwissenschaftler. In seiner Doktorarbeit ging es um den „Don Quijote“ des Cervantes. Als Romanist hat er etwa über Pascal, Voltaire, Balzac und Baudelaire geschrieben. Aber es gibt von ihm auch eine „Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit“ (1990), die sich mit der deutschen Literatur von Goethe bis zu Ernst Jünger und Thomas Mann befasst. Die Heiterkeit überhaupt hat es Weinrich angetan; 1968 publizierte er die gewichtigen „Drei Thesen zur Heiterkeit in der Kunst“. Theoretisch bedeutsam ist sein Aufsatz von 1967 „Literaturgeschichte des Lesers“, der sich in der Nähe von Hans Robert Jauss und Wolfgang Iser bewegt, also der sogenannten „Rezeptionsästhetik“, einem der wenigen Beiträge zur Literarhistorie aus Deutschland, vielleicht dem einzigen, der nach dem Krieg international Beachtung fand.

Schließlich gibt es einen vierten Weinrich – den Kulturanthropologen. Ihn interessiert alles Menschliche, insofern es kulturelle Tradition ist, also nicht bloß der biologischen Ausstattung des Menschen entspringt. Aber: Was ist schon rein biologisch am Menschen? Hier sind besonders zwei Bücher zu nennen. In dem einen geht es um Lethe, den Fluss des Vergessens. Die reduzierte Behaglichkeit, wie sie sich die Griechen als für die Unterwelt, das „Schattenreich“ kennzeichnend vorstellten, ist nur möglich durch ein vorhergehendes Vergessen. In Weinrichs „Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens“ (1997) steckt beinahe eine ganze Geschichte des Abendlands, von den Griechen über Augustin und Dante und Montaigne, Kant und Nietzsche bis zu Heinrich Böll und Jorge Luis Borges.

Mit 32 Jahren bereits war Weinrich Professor – in Kiel. Dann ging es nach Köln, nach Bielefeld, wo er eine Universität neuen Typs mitbegründete (das Zauberwort war damals „Interdisziplinarität“), nach München. Ja, und dann kam die Berufung auf einen ordentlichen Lehrstuhl für Romanistik am legendären „Collège de France“ in Paris. Ein deutscher Professor in diesem 1529 von Franz I. gegründeten Institut ist sensationell: „ein bedeutendes Ereignis der europäischen Wissenschaftspolitik“, schrieb Wolf Lepenies. Der nunmehr doppelt Emeritierte hat alle Preise erhalten, die in seinem Bereich infrage kommen. Und einen wichtigen hat er selbst geschaffen: den „Adelbert-von-Chamisso-Preis“ der Robert-Bosch-Stiftung für Deutsch schreibende Ausländer.

Man sieht: Sein Buch „Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens“ hat auch für ihn persönlich Bedeutung. Jedenfalls hat er damit eine wunderbar erzählte literarisch-philosophische Geschichte der Zeit geschaffen, die mit Tom Tykwers Film „Lola rennt“ endet. Der knappe Wunsch, verbunden mit einer herzlicher Gratulation, versteht sich deshalb von selbst: Harald Weinrich möge noch viel, viel Zeit haben.

Im Verlag C. H. Beck ist soeben Weinrichs Buch „Wie zivilisiert ist der Teufel? - Kurze Besuche bei Gut und Böse“ erschienen (255 Seiten, 26,90 €).

Hans-Martin Gauger

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