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Literatur: Potenzmittel und Prothesen

Wie Zeitungslektüre Literatur befördert: James Joyce in Pula

In dem kaum zu entwirrenden Geflecht aus Kalkül und Zufall, Plan und Inspiration gründet alle Kunst und Literatur. Doch selbst die Eingebung ist nicht immer nur eine Kopfgeburt – sie nährt sich oft genug auch von äußerer Anregung. James Joyce hat mit seinem 1922 erschienenen Riesenroman „Ulysses“ die erzählerische Moderne revolutioniert. Hanns Zischler, der Berliner Schauspieler und hochgebildete Essayist, hat unter dem Titel „Nase für Neuigkeiten“ nun zusammen mit der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius ein mit reizvollen Illustrationen und Zitat-Marginalien dekoriertes Büchlein vorgelegt, das weit mehr ist als nur eine weitere philologische Fußnote zum Jahrhundertroman. Zischler und Danius wollen die ästhetische Innovation des „Ulysses“ einmal nicht aus dem Zerfall der alten europäischen Welt nach 1900, nicht aus des Autors Psyche oder tieferen Zeiterfahrungen erklären. Sie beleuchten vielmehr: Joyces alltägliches Material. Seine trivialen Vergnügungen.

Zu ihnen gehören das leidenschaftliche Zeitunglesen und, ähnlich wie bei einem Zeitgenossen von Joyce, dem Hanns Zischler seine wunderbare Studie „Kafka geht ins Kino“ gewidmet hat, die frühen, schrillen, jahrmarktssensationshaften Stummfilme. Im Jahr 1904, in dem später auch der „Ulysses“ spielen wird, landet der noch unbekannte Ire James Joyce für fünf Monate als Englisch-Sprachlehrer in der damals habsburgischen Hafenstadt Pola, dem heutigen Pula. Dort, an der istrischen Küste südöstlich von Triest, hat der örtliche Direktor der Berlitz School für seine Kundschaft die Ankunft der neuen Lehrkraft höchst prominent im Nachrichtenteil des italienischsprachigen „Giornale di Pola“ annonciert. Geschmeichelt findet Joyce so seinen Namen im Umfeld etwa mit Festberichten zur Enthüllung eines Denkmals für die Kaiserin Elisabeth (alias Sissi) am selben Tag. Und den aufmerksamen Berlitz-Direktor Almidano Artifoni wird Joyce dann auch im „Ulysses“ verewigen.

Wie aber kam die von einer Meldung kaum zu unterscheidende Anzeige so unübersehbar ins Blatt? Ergriffen vom Boom neuer Techniken und dem Tempo der Zeit, kombinierte die Tagespresse in oftmals wildem Umbruch Inserate, auch solche für skurrile Potenzmittel oder andere Prothesen, mit weltpolitischen Nachrichten und den von modernen Telegrafen ebenso zahlreich übermittelten Kurzmeldungen über Unglücksfälle, Verbrechen und Kuriositäten. Das war das unterhaltsam „Vermischte“. Hanns Zischler hat sich dafür akribisch in die Archive begeben und nicht nur die Presse von Pola um 1904 studiert und anhand von Meldungen auch über Kinovorführungen sich ein Bild von den Bildern gemacht, die das Futter des Zeitungs- und Filmemarders J. J. im Anbruch seiner literarischen Karriere waren.

Was als „Vermischtes“, im Französischen fait divers genannt, noch heute die oft letzte und allemal beliebte Seite einer Zeitung ist, birgt häufig den Stoff, aus dem Romane und Filme sein könnten. Beispiele zweier Tage im August 2008: Eine Hollywoodautorin, die ihren verstorbenen Pitbull klonen ließ, soll früher „einen Missionar vergewaltigt“ haben. Und ein nach Amerika ausgewanderter bayerischer Dörfler wurde in den USA als falscher Rockefeller und echter Millionär im Zusammenhang mit einem Doppelmord festgenommen. Roland Barthes hat das Prinzip einmal so definiert: „Wenn es ein politischer Mord ist, ist es eine Information. Wenn nicht, ein fait divers.“

Die filmähnliche Montage, in der Joyce seinen „Ulysses“-Helden Leopold Bloom am 16. Juni 1904 auf Bewusstseinsströmen und Trivialität oder Mythos nie voneinander scheidenden Sprachkaskaden durch Dublin treiben lässt, sie verdanke sich der Collagetechnik des (damals) modernen Zeitungsumbruchs. Und dem wertfreien, Hoch und Niedrig, E und U vermischenden Prinzip der „faits divers“, die auch im frühen Kino als filmische Anekdoten beliebt waren.

Das ist vor allem Zischlers These, die Sara Danius etwa mit Blick auf den „Fait divers“-Liebhaber Flaubert unterfüttert. Flaubert, bevor er die Arbeit an seiner (einer Ehebruch- und Selbstmordmeldung entsprungenen) „Madame Bovary“ begann, äußerte einmal die Lust, „ein Buch über nichts“ zu schreiben. Und die Irrfahrt des Ulysses Bloom, der Akquisiteur für Zeitungsanzeigen war, nannte Joyce fernab von allen homerischen Bezügen „die kleine Story eines Tages“.

Die Argumente der beiden Autoren erklären freilich nicht das Monströse, das uferlos Fabelhafte der „kleinen Story“. Sie erhellen nur einen technischen Aspekt. Schon das ist nicht wenig. Merkwürdig nur, warum der wohl größte, früheste Meister des „fait divers“ hier trotz aller kulturhistorischen Begleitmusik gar nicht vorkommt: Heinrich von Kleist, der Unglücksfälle und Verbrechen als anekdotischer Erzähler wie auch als Redakteur seiner „Berliner Abendblätter“ (1810/11) immerzu liebte und nutzte. Von diesem Einwand abgesehen, bringt Zischler/Danius’ „Nase für Neuigkeiten“ weit über Joyce hinaus Gewinn: mit schönsten Lesefrüchten aus den „faits divers“ der Literatur- und Zeitungsgeschichte.

Hanns Zischler/ Sara Danius: Nase

für Neuigkeiten
. Vermischte Nachrichten von James Joyce. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 167 S., 17, 90 €

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