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Schmidt

© Mike Wolff

Rainer Schmidt: Halt dich an deiner Sehnsucht fest

Leben für den Exzess: der Berliner Autor Rainer Schmidt und sein Debütroman über jugendliche Gewalt.

Die Markthalle in Kreuzberg passt gut als Treffpunkt. Zu Rainer Schmidt, und zu seinem gerade erschienenen Debütroman. Mitten im Kiez liegt das Lokal, mittendrin im Kreuzberg der Halbstarken, zwischen Gangs und harten Jungs, im Zentrum der Westberliner Punkgeschichte. Der Kiez könnte gut der Schauplatz von „Wie lange noch“ sein.

Hier, bei lauwarmem Mirabellenschnaps und gezapftem Bier, scheint der Sound des Romans durch die Fenster zu dringen, auf den Straßen glaubt man sie fast vor sich zu sehen, die Helden des Romans. Im Zentrum steht der 18-jährige Felix, der ein Jahr vor dem Abitur nichts anderes im Kopf hat als die Hölle. Die Hölle auf Erden. Er und seine Clique haben Sehnsucht, wie jeder Heranwachsende, Sehnsucht nach großen Gefühlen, nach Liebe. Dabei umgibt sie tagtäglich eine nicht enden wollende Gewaltorgie, ein Blutrausch, ein Kampf im Darwinschen Sinne: Die Stärkeren gewinnen. Felix und seine Freunde gehören leider nicht zu den Stärkeren. Sie leben in gediegenen Einfamilienhäusern und besuchen das Gymnasium. Die Stärkeren, das sind die Realschüler aus den Neubausiedlungen. Schmidts soziale Polarisierung – Proletenkinder auf der einen, Bildungsbürgerzöglinge auf der anderen Seite – scheint geradewegs auf die aktuelle Debatte um Jugendgewalt zu verweisen.

Aber es steckt einiges mehr in diesem Buch. Felix’ große Liebe Nadja hat ihn mit einem guten Freund betrogen, die Eltern leben das verlogene, realitätsferne Leben einer Mittelschicht, die die Sehnsüchte ihrer Kinder nicht begreifen will. Eine Rettung, ein Neuanfang, eine Fluchtmöglichkeit – für Felix scheint nichts davon greifbar. Die tägliche Herausforderung, seine Lebensrealität zwischen Gewalt und Tristesse auszubalancieren, scheint kaum lösbar. Am Schluss zieht Felix eine radikale Konsequenz, die ihn fast durchdrehen lässt. Ein Ausweg wird auch daraus nicht.

Rainer Schmidt hat einen adrenalingetränkten Plot erzählt, in dem mehr steckt als eine Coming-of-Age-Geschichte, gepaart mit dem episch aufgearbeiteten und medientechnisch gerade total angesagten Jugendgewaltthema. Schmidt geht es um Sehnsüchte. Darum, die Sehnsüchte seiner jungen Helden nicht den Zwängen ihrer Lebensrealität unterzuordnen, sondern sie voll und ganz für die Sehnsucht leben zu lassen.

Rainer Schmidt, 43, geboren in der Nähe von Düsseldorf, interessiert sich für Jugendgewalt nicht erst, seit Roland Koch einen Wahlkampf mit diesem Thema bestritten hat. „Die Geschichte um Felix ist keine Medienrecherche. Ich kenne die tägliche Gewalt der Jugend, und die gibt es nicht erst seit ein paar Jahren“, erklärt Schmidt, der selbst einen braunen Gürtel in Karate hat und mal Quarterback in einem Football-Team war. Ist sein Buch möglicherweise weitaus persönlicher, als es die Erzählung in der dritten Person glauben macht? „Ich habe viele Erfahrungen gemacht, aber das Buch ist mehr als eine private Aufarbeitung“, sagt Schmidt. Konkreter wird er nicht, genau so wenig wie sein Buch, dessen Neubauten und Einfamilienhäuser in vielen westdeutschen Städten angesiedelt sein könnten, dessen Jugendliche sich auch nicht eindeutig einem bestimmten Jahrzehnt zuordnen lassen. Sicher, es gibt Hinweise: den Punksound der achtziger Jahre zum Beispiel. Aber ansonsten könnte „Wie lange noch“ immer und überall spielen.

Zwanzig Jahre, sagt Schmidt, habe er den Plot mit sich herumgetragen, das Thema habe ihn nicht losgelassen. Heute wirkt der Autor nicht nur zufrieden, weil er 352 Seiten zu Papier gebracht hat, sondern weil er sich einen Stoff von der Seele geschrieben hat, all diese Geschichten, die er möglicherweise selbst erlebt hat. Zwei Jahre hat er an dem Roman gearbeitet, „und es waren zwei intensive Jahre“, sagt Schmidt.

Einen dichten Klangteppich der Gewalt breitet das Buch aus: das Zischen von Bierbüchsen, das Knistern von Joints, Schläge, Tritte, das Schmatzen malträtierter Augen, dazwischen wortkarge Gespräche zwischen Jungs, die gerade der Pubertät entsprungen sind und eigentlich ins Leben starten sollten – all das schafft eine zermürbende, archaische Atmosphäre. Beklemmend körperlich ist diese Prosa, in der immer wieder Beine vorkommen, Beine, die treten, Beine, die getreten werden, die selbst in den Namen der handelnden Personen wieder auftauchen: Hölzenbein heißt der Anführer der Gewaltclique, die Felix und seinen Kumpels das Leben schwer macht. Und das nicht, weil es diesen Jungs bei ihren gewalttätigen Überfällen um Materielles ginge, sondern allein, weil sie testosteron- und alkoholgesteuert alles kurz und klein hauen, was ihnen über den Weg läuft. Gewalt ist immer sinnlos, aber Schmidt gelingt es, diese Sinnlosigkeit ins Absurde zu steigern. Da selbst die Helden des Buchs irgendwann kein anderes Mittel mehr kennen als die Gewalt, weiß der Leser nicht mehr, ob es überhaupt Helden geben kann in diesem Buch.

„Das ist wie im richtigen Leben“, sagt Schmidt, „wo man sich als Junge in einer solchen Situation fassungslos fragt, warum alle das Absurde für normal halten und man mit seinen Wertmaßstäben alleine bleibt.“ Die Eltern, die Gesellschaft, die Lehrer – keiner steht für die Moral. Die Hauptfigur Felix ist vielleicht der einzige Moralist, der die Natur der Gewalt begreift und gleichzeitig feststellen muss: Es gibt keinen Frieden.

Schmidt gelingt es, diese sehr private Erzählung über das Private hinauszuführen. „Wie lange noch“ ist weder Pop- noch Erlebnisliteratur. Auf den ersten Blick erzählt Schmidt einfach sehr elegant einen Plot. Erst auf den zweiten Blick wird offenbar, dass hier jemand sehr entschieden dem Problem gesellschaftlicher Gewalt auf die Pelle rückt, indem er es in der Phase des Erwachsenwerdens verankert. „Sehnsucht und Verlorenheit selbst unter vermeintlichen Freunden sind für mich die bestimmenden Gefühle in dieser Phase“, sagt Schmidt, der seinen Lesern zwischen all der körperlichen Gewalt nur kurze Verschnaufpausen einräumt, in denen schwarzer Humor aufblitzt. Wechselbäder zwischen knallhart und lustig: wie Jugendliche eben die Welt erleben.

Ausgerechnet im Edelrestaurant „Borchardt“ will Schmidt diese Woche seinen Debütroman feiern. Nicht ganz das passende Umfeld eigentlich für dieses Buch. Aber Schmidt ist ja auch nicht sein Romanpersonal. Er war mal Vize-Chef der „Vanity Fair“, er war Spiegel-Reporter, er lebte als BBC-Redakteur in London. Er lebt ein anderes Leben als seine Helden, ein komplett anderes – auch wenn er seit ein paar Jahren in Kreuzberg wohnt. Niemand bleibt ewig jung. Aber manche werden nie so alt, dass sie ihre Sehnsucht vergessen.

Rainer Schmidt: „Wie lange noch“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 352 Seiten, 9,95 Euro.

Ric Graf

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