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Reiseerzählung: Spur des Bruders

Hans-Ulrich Treichel erzählt in "Anatolin" ein neues Kapitel seiner verlorenen Familie. Es ist mindestens ebenso sehr auch ein Essay über autobiografisches Schreiben, der zu einem überraschenden poetologischen Schluss kommt.

In der eigenen Familiengeschichte kann Potenzial für ein ganzes schriftstellerisches Lebenswerk stecken. Der Wunsch nach Tradierung mag den Autor dabei ebenso antreiben wie das Bedürfnis, sich von der Vergangenheit loszuschreiben und der Geschwätzigkeit der Ahnen zu entkommen. Bei dem Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel liegt der Fall ein bisschen anders: Er würde gern, kann aber nicht. „Keine Namen, keine Fotos, keine Unterlagen, keine Erinnerungen und noch nicht mal ein Grab“ – Hans-Ulrich Treichels Helden sind oft vergeblich auf der Suche nach ihren Wurzeln und der großen Lücke, die das Familienalbum ließ.

„Der Verlorene“ heißt Treichels Erfolgsroman aus dem Jahr 1998. Darin erzählt der Leipziger Creative-Writing-Professor aus der Perspektive eines Jungen die tragische, autobiografisch aufgeladene Geschichte des älteren Bruders, der den Eltern auf der Flucht aus Ostpreußen „verloren gegangen“ ist. Aus Furcht vor der Roten Armee hatte die Mutter in einem Moment der Panik das Kind einer anderen Frau in die Arme gedrückt, und alle späteren Bemühungen, den Sohn wiederzufinden, scheitern.

Arnold, so der Name des Verlorenen, gilt für den Zweitgeborenen jahrelang als tot, und die Eltern schweigen beharrlich über alles, was mit ihrer Flucht und Herkunft zusammenhängt. Erst spät begreift der nachgeborene Sohn, dass „Arnold verantwortlich dafür war, dass ich von Anfang an in einer von Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre aufgewachsen war“.

Ein Trauma, das Treichel nun bereits zum dritten Mal in einem längeren Prosawerk beschäftigt: Dass „Anatolin“ mit der Gattungsbezeichnung „Roman“ versehen wird, hat wenig mit dem Buch selbst zu tun, mehr wohl mit dem verständlichen Wunsch nach einem weiteren Bestsellererfolg à la „Der Verlorene“. Denn eigentlich handelt es sich beim neuen „Roman“ um eine Reisebeschreibung. Der Ich-Erzähler fährt von Berlin nach Polen, um den Geburtsort der Mutter ausfindig zu machen. Natürlich ist die Reise nach Anatolin eine herbe Enttäuschung. Die Rührung, die den Erzähler manchmal überkommen will, entpuppt sich als eine Art Second-Hand-Gefühl – schnell durchschaut als solches. Vertriebenennostalgie hat im Seelenhaushalt des namenlosen Autors keinen Platz.

„Anatolin“ ist aber nicht nur Reiseerzählung, sondern mindestens ebenso sehr auch ein Essay über autobiografisches Schreiben, der zu einem überraschenden poetologischen Schluss kommt: „Nicht nur meine Bücher halte ich nicht für im überlieferten Sinne autobiografisch. Ich halte auch mich selbst nicht für autobiografisch.“ Dass dies so ist, hat bei Hans-Ulrich Treichel mit jener familiären Leerstelle zu tun, die selbst die durchaus mit Unbehagen betriebene Ahnenforschung nicht ausfüllen kann: Es gibt weder Herkunft noch Zuhause, nur das ewige Umkreisen der fehlenden Geschichte, mal weiträumiger, mal enger. Die Autor-Inszenierung hat dabei allerdings schon etwas von einer Masche: Lakonische, zur Pointe strebende Sätze und ein Thomas-Bernhard’scher Wiederholungszwang sollen den Zwangsneurotiker enttarnen, dazu passt eine Komik, die von Woody Allen abgeschaut zu sein scheint, sowie eine auch das eigene Ich nicht schonende Ironie – all das kennen wir weidlich aus den vorangegangenen Büchern Treichels, ja sogar schon aus den allerersten Prosaskizzen dieses Autors.

Das ist unterhaltsam – aber ist es mehr? Nach der Wiederholung der Wiederholung hat man ein wenig Mühe, dem Ganzen noch Reiz abzugewinnen. Zu berechnend wirkt die Neuauflage des Themas, zu bekannt scheinen die eingesetzten Stilmittel, zu oft gelesen das verwendete Material und zu wenig dringlich die Identitätsvergewisserung im gar nicht heimelig-heimatlichen Osten.

Eine gute Nachricht aber gibt es doch: Der „Verlorene“ scheint am Ende des neuen Buches endgültig verloren; weitere Suchaktionen sollten eingestellt werden.

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