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Rezension: Murathan Mungan: "Tschador"

„Tschador“ erzählt von einer gespenstischen Agonie, die dadurch noch gesteigert wird, dass die Welt, in der sie sich ausbreitet, dem freien Blick derer, die in ihr leben, entzogen ist.

Eine namenlose Stadt in einem namenlosen Land. „Soldaten des Islam“ haben das alte Regime hinweggefegt – und mit ihm das gewohnte Leben. Hitze und Staub liegen über den Trümmern und Traumata, die der Krieg zurückgelassen hat. Nur mit der ganzen Kraft seiner Erinnerung erkennt Akhbar, der in seine Heimat zurückkehrenden Protagonist von Murathan Mungans Roman „Tschador“, die Orte seiner Kindheit überhaupt wieder. Die Menschen, die er sucht, sind fast alle verschwunden. Die Mutter: angeblich weggezogen. Die Schwester: nicht ausfindig zu machen. Der Bruder: umgekommen.

„Tschador“ erzählt von einer gespenstischen Agonie, die dadurch noch gesteigert wird, dass die Welt, in der sie sich ausbreitet, dem freien Blick derer, die in ihr leben, entzogen ist. Die Männer nehmen alles offensichtlich Weibliche nur noch verschleiert und verhüllt wahr, der weibliche Fokus wird durch den Sehschlitz der allgegenwärtigen Burkas begrenzt. „Wie“, heißt es einmal, „sahen die Unsichtbaren die Welt, die ihnen verbot, gesehen zu werden?“

Murathan Mungan, 1955 in Istanbul geboren und in der Türkei der erfolgreichste Schriftsteller seiner Generation, dessen Bücher regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten stehen, entwirft in seinem allegorischen Roman eine Szenerie, in der sich politische Endzeitvision, anthropologische Spekulation und persönliche Phantasmagorie vermischen. Seine beeindruckende Kraft bezieht der Roman aus einem mit betont archaisierenden Sätzen aufgeladenen Pathos des Elementaren. Sein symbolisch dräuender Überschwang rückt ihn passagenweise aber auch in die Nähe des Kitschs.

Doch man wird dem vor vier Jahren im Original erschienenen „Tschador“ nur gerecht, wenn man das Buch im Zusammenhang eines Werks sieht, das sich in den Traditionen des orientalischen Märchens so selbstverständlich bewegt wie in dem Kosmos, den Murathan Mungan als offen schwul lebender Türke bewohnt. Die Modernität, die „Tschador“ dabei erreicht, unterscheidet sich sowohl von dem oft behäbigen Fabulieren, in dem sich Orhan Pamuk übt, wie von dem zupackenden, an amerikanischer Literatur geschulten Storytelling, mit dem sich Elif Shafak als internationaler Exportartikel empfiehlt. Gregor Dotzauer

Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Blumenbar Verlag,
München 2008. 128 Seiten, 17,90 €.

Der Müll ist das Problem. Der Müll, der sich an der Mauer eines großen Mietshauses in Istanbul stapelt. Es ist Sommer, es ist heiß, und bald ertragen die Bewohner den Gestank nicht mehr.

Müll als Metapher für eine Stadt, die Vergangenes vergisst, wegwirft, überbaut, und immer wieder neu, frisch und strahlend sein will für die Zukunft. Nirgendwo sonst liegen die Lebenden und die Toten so nah beieinander wie in Istanbul, hat die junge Schriftstellerin Elif Shafak einmal gesagt. Kein Wunder, dass ihr vierter Roman von einem Haus handelt, das auf zwei aufgelassenen Friedhöfen steht. Und in dem es so lebendig brummt wie in der ganzen großen Stadt Istanbul.

Zehn Wohnungen gibt es im Bonbonpalast, der entgegen seinem Namen gar nicht bonbonbunt, sondern im Gegenteil recht grau und verwittert ist, angefüllt mit seltsamen Existenzen. In kurzen oder längeren Kapiteln geht die Autorin gleichsam von Tür zu Tür, klopft hier an und dort, bleibt hängen oder wird auch recht barsch abgewiesen: von der Hygiene-Tijene mit ihrem Putzfimmel und ihrer verlausten Tochter, oder dem Studenten im Keller mit seinem riesigen Bernhardinerhund, von Tantchen Madam, der alten Dame im Dachgeschoss, dem Großvater Hadschi Hadschi, der seinen drei Enkeln Märchen erzählt, dem kleinen Muhammet, der so ungern zur Schule geht, oder dem namenlosen Ich-Erzähler, der von seiner Frau verlassen wurde und eine freundschaftliche Beziehung zur „Blauen Mätresse“ aus der Wohnung nebenan beginnt. Und im Friseursalon im Erdgeschoss kommt aller Klatsch zusammen.

Es hat etwas von Tausendundeine Nacht, dieses mäandernde, labyrinthische Erzählen, und wie Shehezerade weiß auch Elif Shafak die Spannung über unendlich viele Einzelepisoden zu steigern. Was Orhan Pamuk mit seinem „Museum der Dinge“ in der Realienwelt gelang, zeichnet Shafak im Kleinkosmos eines Mietshauses: ein Stadtporträt, gebündelt in nur einem Haus, ein schöner, melancholischer Heimatroman. Dass alles gar nicht real passiert ist, sondern bloß Fantasie eines wegen Teilnahme an einer Demonstration verhafteten Philosophieprofessors, um das Grau der Gefängniszelle etwas bonbonbunter zu gestalten, nimmt den Geschichten nichts von ihrer Harmlosigkeit. Elif Shafak, die 1971 in Straßburg geboren wurde, in Spanien und den USA studiert hat und seit einigen Jahren wieder in Istanbul lebt, hatte Grund zur Vorsicht: Ihr voriges Buch, „Der Bastard von Istanbul“, in dem es um die türkisch-armenische Geschichte ging, hatte ihr eine Anklage wegen „Beleidigung des Türkentums“ eingebracht. Der „Bonbonpalast“ hingegen wurde als eines der besten türkischen Bücher seit Jahren gerühmt.Christina Tilmann

Roman. Aus dem Türkischen von Eric Czotscher. Eichborn Verlag,

Frankfurt a. M. 2008. 470 Seiten, 19,95 €.

Am Anfang steht ein Mord. Fischer finden die Leiche eines jungen Mannes am Ufer des Bosporus. Es ist eine falsche Fährte – Perihan Magden kommt nie mehr auf den Toten zu sprechen. „Zwei Mädchen. Istanbul-Story“ ist kein Krimi, sondern ein einziger, atemloser Rap über eine Stadt der Frauen. Ein Mädchen- und Mütterkosmos voller Tränen, Nervenzusammenbrüche, blutender Hände, verquollener Augen, Wodka, Zigaretten, Ausgeh- und Alltagsunterwäsche.

Zwei 16-jährige Mädchen, Behiye und Handan, verfallen einander, weil sie so gegensätzlich sind. Die eine wild, rebellisch, klaut in ihrer Lieblingsbuchhandlung Kafka und Sartre. Die andere, ein flauschiges „Babykatzenmädchen“, sanft, schön, infantil, ist der einzige Halt ihrer Mutter, die kein Glück hat mit ihren Liebhabern. Der Kühlschrank ist immer leer, Geld nicht vorhanden, aber Gucci-Parfum. In die Symbiose zwischen der kindischen Mutter und ihrem „Baby“ Handan drängt sich Behiye hinein, bis sie ausgestoßen wird.

Bleibt das Gassengewirr um den Taksim-Platz in Beyoglu. Menschengewoge, blinde Straßenmusiker, Ramschläden, Billigcafés. Perihan Magden, 1960 geboren und in der Türkei eine schillernde Figur, die nicht zuletzt durch ihre Kolumnen in der Zeitung „Radikal“ von sich reden macht, zeichnet ihre Stadt mit aggressivem, sicherem Strich – fernab jeder romantischen Folklore. Magdens Istanbul starrt vor Schmutz und Chaos, in den ständig laufenden Fernsehern brüllen Britney Spears oder Tarkan. Paare wie aus der Werbung spielen westliches Yuppie-Dasein, Markennamen sind Zugangscodes. Es ist vor allem Behiyes Stimme, die den Ton der Geschichte bestimmt: Illusionslos und voller Sehnsucht, klarsichtig und radikal wie es eine Generation sein kann, die von allen guten Geistern verlassen scheint. Ein brutaler, ein großartiger Roman. Christina Bylow

Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. Suhrkamp Verlag,

Frankfurt a.M. 2008. 324 Seiten, 9,90 €.

Tick, tick, tick, sechzig mal, immer im gleichen Abstand. Das beruhigt – ganz besonders in Phasen historischer Umwälzungen. Wenn die geschichtliche Zeit aus dem Lot gerät, wenn sie schleudert und schlingert, wenn ihr Lauf mit menschengemachten Messinstrumenten nicht mehr fassbar scheint – dann erst recht besänftigt das unbeirrte Zirkulieren des Sekundenzeigers das desorientierte Gemüt.

So ergeht es Hayri Irdal, der Hauptfigur des in den vierziger Jahren entstandenen, 1962 postum auf Türkisch und nun erstmals auf Deutsch veröffentlichten Romans „Das Uhrenstellinstitut“ von Ahmet Hamdi Tanpinar. Auf der Zeitenschwelle vom osmanischen zum republikanischen, vom vormodernen zum vorzeigemodernen Staat verliert dieser türkische Antiheld die Orientierung – und sucht den historischen Wirren mit chronografischer Ordnung zu begegnen. Als Inspirationsgeber und Erfüllungsgehilfe des charismatischen Geschäftsmanns Halit Ayarci wird er zum Mitbegründer des titelgebenden Uhrenstellinstituts, einer hochmodern organisierten, jedoch gänzlich zweckfreien Monsterbehörde. Im Gespann mit dem Zukunftsfetischisten Ayarci fällt Irdal dabei die Aufgabe zu, das gemeinsam geschaffene Werk in die Vergangenheit zu verlängern – wozu er kurzerhand die Biografie eines fiktiven Zeitgelehrten der osmanischen Vorzeit erdichtet.

„Ich bin dabei, ein absolutes Institut zu gründen“, jubelt Irdals Mentor Ayarci an einer Stelle, „einen Apparat, der seine Funktion aus sich selbst heraus bestimmt. Was kann es Vollkommeneres geben?“

Nicht nur hier weist Tanpinars Roman weit hinaus über die Tücken des türkischen Modernisierungsprojekts – und mitten hinein ins Herz der gesamteuropäischen Moderne. Als türkischer „Mann ohne Eigenschaften“ ist Tanpinars Held deshalb bezeichnet worden – zurecht, auch wenn das „Uhrenstellinsitut“ einer viel älteren literarischen Traditionslinie verpflichtet ist. Hayri Irdal gehört zu jener Kategorie von Romanhelden, die „rittlings auf der Zeitenschwelle“ sitzen (Foucault über Don Quijote). Wie Cervantes’ Held am historischen Übergang zwischen romantischer und realistischer Weltsicht scheiterte, zaudert Irdal an der Schwelle zur Moderne – und ähnelt darin, mehr als allen anderen Helden dieser Gattung, Gontscharows „Oblomow“, dem russischen Aristokraten, den eine verbürgerlichende Welt zu vollkommener Handlungsunfähigkeit verdammte. Bloß war Oblomow das Ticken der Uhren ein Graus. Wie sich die Zeiten doch ändern.Jens Mühling

Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.

Carl Hanser Verlag, München 2008. 432 Seiten, 24,90 €.

Was für ein Mädchen. Kind kleiner Leute, Koransängerin, hochbegabt, anmutig, klug. Rabia lebt im Fliegenkrämerviertel von Istanbul und unterwirft sich nicht. Nicht den Männern, nicht der Etikette, nicht den Mächtigen des Sultanats, nicht den umstürzlerischen Jungtürken. Sie singt fromm und frech, führt einen Krämerladen, lebt mit einem Zwerg und einer Zigeunerin, versorgt ihren Vater, den Schattenspieler und Spaßmacher Tevfik, heiratet einen christlichen Musiker, lernt Toleranz und lehrt die Patriarchen Respekt.

Was für eine Frau. Halide Edip Adivar (1884 – 1964), höhere Tochter, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, glühende Patriotin, Politikerin. Sie schreibt 21 Romane, Theaterstücke und Erzählungen, übersetzt Englisches, kämpft für die Emanzipation, wird Leutnant in Atatürks Befreiungsarmee, liebt die Religion, die Nation, die Unabhängigkeit. Ein Freigeist, so widersprüchlich wie die heutige Türkei und wie die Heldin dieses Entwicklungsromans, der unter dem Titel „The Clown and His Daughter“ 1935 in London erschien und ein Jahr darauf in Adivars eigener Übersetzung als Fortsetzungsstory in der Tageszeitung „Haber“. Eine Soap alla burca: mit privaten Temperamenten und politischen Turbulenzen in der Epochenwende vom Osmanischen Reich zur Republik, mit Figuren zwischen Moschee, Sufismus und Moderne, Familienkrieg und Klassenkonflikt. Ein literarisches Meisterwerk ist Adivars kurzweiliger Klassiker nicht, aber das macht nichts. Ihre Nahaufnahmen vom Viertel der kleinen Leute kommen unverblümt daher – ein Lokalkolorit der ehrlichen Art.

Was für Menschen: Sie zetern, leiden und feiern, sind gütig und grob, unterwürfig und aufmüpfig, hassen und lieben mit ganzem Herzen, und selbst den Pascha ereilt der moralische Skrupel ob der eigenen Willkürherrschaft. „Die Armen“, sagt der Zwerg Rakim einmal , „können es sich nicht leisten, ihrem Kummer nachzuhängen, das Geschäft, das Leben heißt, verlangt einen wachen Verstand und ungeteilte Aufmerksamkeit.“ Ihnen allen verschafft Halide Edip Adivar bewegende Auftritte im Volkstheater der Worte. Christiane Peitz

Roman. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.

Nachwort von Sara Heigl. Manesse Verlag, Zürich 2008. 590 Seiten, 17,90 €.

Etwas muss in den zurückliegenden 800 Jahren gründlich verloren gegangen sein. Sonst gäbe es nicht all diese Bücher, die von einem anderen, toleranten, sinnenfrohen Islam erzählen. Solche Erzählungen rühren an eine tiefe menschliche Sehnsucht, wie sie sich in allen Religionen und Kulturen findet.

Nedim Gürsel, 1951 im Südosten der Türkei geboren und länger schon in Paris zu Hause, geht mit seinen „Anatolischen Legenden“ auf eine mystische Reise – zu den Derwischen und den Geheimnissen des Sufismus, die bis heute weiterleben. In der Stadt Konya überkommt ihn eine ekstatische Ahnung von dem Moment, als im Basar, vor dem Laden eines Goldschmieds, der Sema, der berauschende Tanz der Derwische begann. In Konya, das schon in der Bibel in der Apostelgeschichte erwähnt wird, steht das Mausoleum des Rumi, des wohl berühmtesten Sufi-Dichters (gestorben 1273).

Religion und Dichtung, Liebesdichtung, werden eins. Wie Gegenwart und Geschichte. Es geschieht in Legenden, die Nedim Gürsel auf seiner anatolischen Reise sammelt. Wie zum Beispiel in den Heldenberichten aus dem Leben des kriegerischen Derwischs Geyikli Baba. Eines Tages ging er zu einer Audienz in einen prächtigen Palast, und auf dem Weg dorthin riss er – als Geschenk – eine Platane aus der Erde und pflanzte sie im Garten des Palastes ein. „Heute ist in Bursa keine Spur mehr von Orhan Gazis Palast zu finden, doch die Platane, die Geyikli Baba gepflanzt hat, steht immer noch da.“

Nach einer Weile verliert man in Nedim Gürsels Exkursionen etwas den Überblick. Tages- und Nachtzeiten verschwimmen, und wer weiß schon, ob er nicht an neuen, wundersamen Legenden strickt. „Sieben Derwische“ ist ein Buch, das Unruhe weckt, die Lust auf jenen „nahezu vollkommenen Morgen, an dem in Bursa Weiß und Grün, Steine und Wasser, die Innenhöfe mit den Säulengängen und die Bleikuppeln ineinander übergingen ...“. So etwas kann ein glücklicher Mensch vielleicht auch in der lichten Kathedrale von Vezelay, in armenischen Kirchen und auf dem Berg Athos erleben. Das liegt auch daran, dass Nedim Gürsel eine westliche Perspektive auf den Sufismus zulässt. Letzten Endes, und da würde kein Heiliger dieser Welt widersprechen, sind auch Reisen und Religion eins: die ewige Suche. Rüdiger Schaper

Reisebericht. Aus dem Türkischen von Monika Carbe. Insel Verlag,

Frankfurt a. M. 2008. 170 Seiten, 17, 80 €.

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